Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 10. Dezember 2015, Teil 4

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Was ein Klassiker ist? Ein Kinderklassiker ist auf jeden Fall der Kinderroman der Johanna Spyri von 1881, der die Sehnsucht nach der heilen Bergwelt der Schweizer Alpen in jedes Kinderherz trug, denn mit der elternlosen HEIDI mußten wir nach Frankfurt am Main, wo in der geschäftigen Großstadt das Haus des Herrn Sesemann ihr Obdach geboten wird, darüber hinaus aber das, was wir Zivilisation nennen: Manieren sowie Lesen und Schreiben.

 

Das aber ist nur der oberflächliche Gegensatz: die heile Bergwelt und das rigide Benimmleben. Es gibt auch andere. Die miesen vorurteilsbeladenen Dorfbewohner, die Heidis Großvater (Bruno Ganz) einen Mörder nennen und ihn ausgrenzen. Selbstzufriedene Figuren, die die eigene Enge als groß und die weite Welt als klein ansehen. In Frankfurt dann erweitert sich das soziale Spektrum. Mit der im Rollstuhl sitzenden mutterlosen Klara (Isabelle Ottmann) erleben wir einen lieben Menschen, dem andere auch nur Liebes wollen, am meisten der Vater (Maxim Mehmet), der allerdings in Geschäften meist im Ausland weilt, während die Erfordernisse der Welt durch das Fräulein Rottenmeier (Katharina Schüttler) dargestellt werden, die als preußische Anstandsdame dem Sesemannschen Haus Mores lehrt.

 

So weit kennt doch jeder die Geschichte, in der sich Heidi (Anuk Steffen) zurechtfindet und wir mit ihr leiden und uns mit ihr freuen. Auch diejenigen, die sie in und auswendig kennen, selbst diejenigen, die immer wieder die Bücher gelesen oder vorgelesen haben und die vielen Verfilmungen kennen, auch die Zeichentrickfilme und erst recht Animes etc., alle diejenigen werden an dieser Verfilmung von Alain Gsponer ihre Freude haben und ganz und gar keinen Überdruß, geschweige denn Langweile.

 

Anders herum, kurzweilig kommt HEIDI daher und ins Heute verpflanzt, obwohl äußerlich die Welt von damals auf der Leinwand erscheint. Petra Volpe hat ein Drehbuch nach Johanna Spyri geschrieben, wozu diese sicher als Modernisierung ihr Ja gegeben hätte. Die Modernisierung liegt in der psychologischen Vertiefung der Personen, die für den Film bedeuten, daß er weder auf einem Schwarz Weiß Denken, noch ein Früher war alles besser-Getue beruht, sondern auf einem Urkonflikt, der angelegt ist in Begriffen wie Heimat versus Fremde. Karge Heimat, opulente Fremde.

 

Für diese Vertiefung der Heidi selbst ist die Darstellerin Anuk Steffen eine ideale Besetzung, weil sie das frohe Naturkind genauso geben kann wie die bei vollem Teller in ihrer Psyche darbende Heidi in Frankfurt und vor allem im Zusammenspiel mit Bruno Ganz als Almöhi (kommt von Alm Oheim, also Onkel und nicht Opa!) und auch Quirin Agrippi als Geißenpeter Anrührungen im Zuschauer erreicht. Wir finden den Film völlig unkitschig – und waren darüber so erstaunt, wie erfreut.

 

Das liegt an der Entscheidung von Drehbuch und Regie, den Aspekt des Naturkindes besonders herauszustellen. Denn so, wie Heidi die Natur und die Tiere erlebt, ist das eine beseelte Natur, die im Horizont des Kindes liegt und nichts Fremdes diesem kindlichen Gemüt aufdrückt. Das liegt auch daran, daß die Erwachsenen nicht als guter Opa und Oma herüberkommen, sondern als versponnene Menschen (Almöhi) oder resolute Großmama Sesemann (Hannelore Hoger) oder liebender Vater.

 

Für Kinder von heute sind die Bedingungen, unter denen Heidi in den Schweizer Bergen leben lernt, fremd und abenteuerlich. Für Kinder von heute sind die Bedingungen im Frankfurter Heim der Sesemanns ebenfalls ungewöhnlich, denn eine Erziehung als Dressur, wie es insbesondere Fräulein Rottenmeier versucht, kennen Kinder von heute höchstens aus Büchern. Eben aus Heidi. Aber sie lernen sehr schnell, daß ihre heutigen Zurichtungen für ein industriellen Leben eben auch Unfreiheiten bedeuten. Insofern ist der Kern des Widerstands, den Heidi an den Tag legt genauso übertragbar auf heute, wie ihre erschlaffenden Kräfte, die dann in Gang gesetzt von Klaras Großmama zur Rückkehr in die Schweiz führen.

 

Hier weicht der Film vom Buch ab, aber das macht nichts, auch wenn dann die Wunderheilung von Klara auf dem Berg ein bißchen überinszeniert ist. Aber Kinder haben das gerne, daß es gut ausgeht. Was uns im Film fehlte, war die Bedeutung von des Geisenpeters Großmutter. Die kam eigentlich nur mit ihrem schadhaften Gebiß zum Einsatz und zum Lacherfolg ob der weichen weißen Brötchen, die Heidi für sie in Frankfurt sammelt und versteckt. Sie ist es aber, die die seelischen Dimensionen von Heidi im Buch sehr deutlich macht, denn es geht im Zusammensein mit ihr nicht mehr um Materielles, sondern um Heidis Erfahrung, daß sie einen anderen Menschen glücklich machen kann.

 

Tatsächlich sind in dieser Heidi so viele Eigenschaften angelegt, die auch für Kinder von heute existentiell sind, daß wir uns doch noch mal mit dem Buch und auch der letzten Fernsehserie beschäftigen wollen.

 

P.S. Irgendwie gerieten der Hausdiener Sebastian (Peter Lohmeyer) und das Hausmädchen Tinette (Jella Haase) bei der Filmbesprechung ins Abseits. Das haben die beiden nicht verdient, wie überhaupt darüberhinaus auch kleinere Nebenrollen passend besetzt sind. Es ist ein spielfreudiges Ensemble zusammengekommen, das von Alain Gsponer auf die gemeinsame Geschichte hin orientiert wird.