Die Wettbewerbsfilme der 66. Berlinale vom 11. bis 21. Februar 2016, Film 10/23

 

Claudia Schulmerich

 

Berlin (Weltexpresso) – Eigentlich geht es um die beiden sich abstoßenden und anziehenden Siebzehnjährigen Damian und Thomas, die durch alles getrennt sind: soziale Klasse, weiß-farbig, eigenes Kind -Adoptivsohn, aber in einer Gymnasialklasse aufeinanderprallen. Für uns aber war die Heldin des Films Marianne, die Mutter von Damien, der Sandrine Kiberlain eine so optimistische, warmherzige Ausstrahlung gab, daß der ganze Film eine Liebeserklärung an sie ist.

 

Ja, eine solche Frau möchte man in seiner Nähe haben. Sie erlebt wach ihre Umwelt mit, ist aber keine, die sich selbst nicht wahrnimmt, sondern eine, die die Bedürfnisse von anderen vorherdenkt und sich einmischt, wenn sie glaubt, für andere Gutes tun zu können. Daß sie zudem Ärztin ist, gibt ihrer persönlichen Eigenschaft noch etwas Professionelles dazu, denn Ärzte sind Heiler und qua Amt dem guten Menschsein verpflichet. Es gab aber wohl noch nie eine Darstellung einer solchen Frau ohne jeglichen Einschlag von reinem Altruismus und Nächstenliebe, weil man keine eigene hat.

 

Diese Frau bringt die Kraft in sich selber hervor, ihre Kraftquelle ist aber immer wieder ihre Liebesbeziehung mit ihrem eigenen Mann, der als Pilot beim Militär in den Lufteinsätzen in Vorderasien tätig ist und am Schluß tatsächlich sein Leben läßt. Dazwischen aber wird in drei Trimestern das Geschehen in dem kleinen Bergdorf in den Pyräneen, dort wo sich die Füchse gute Nacht sagen und Thomas Bärentatzenspuren erkennt.

 

Der Film beginnt in tiefem Schnee, wo wir miterleben, welchen Aufwand Thomas (Corentin Fila)auf sich nehmen muß, um drei Stunden Weges täglich zur Schule zu fahren und zu laufen, während Damien (Kacey Mottet Klein von der lieben Mama im Auto vorgefahren wird. Im ersten Teil sehen wir den Eifersüchteleien, Gemeinheiten und auch Mobbingversuchen gegenüber Thomas zu. Doch dann weichen die Verkrustungen der äußeren Erde genauso wie die inneren Mauern und alles beginnt sich aufzulösen, ohne noch neue Strukturen zu schaffen.

 

Die Adoptiveltern, die für Thomas mit seinen maghrebinischen Wurzeln liebevolle Eltern sind – es ist übrigens wunderbar, endlich mal rundherum liebevolle Eltern-Kind-Beziehungen auf der Leinwand zu erleben - , erwarten ein eigenes Kind, wobei die Schwangerschaft gefährdet ist und Thomas dieses eigene Kind als Gefahr für sich sieht, daß er nämlich wieder weggeschickt werden könnte. Gleichzeitig fällt Thomas schulisch ins Aus, weshalb Marianne ihn einlädt, unten im Dorf nahe der Schule mitzuwohnen und endlich das Lernen zu lernen. Das geht gut, ja sehr gut aus. Auf Dauer. Erst einmal kämpfen aber die beiden Buben um ihre Reviere, wozu auch Marianne gehört.

 

Und dann ist Sommer. Und während die Luft flirrt und Erotik in der Luft liegt, verliert Marianne ihren Mann und Damian seinen Vater. Kälte im Sommer. Regisseur André Téchine liebt seine Leinwandfiguren. Zusammen mit Céline Sciamma hat er ein Drehbuch verfaßt, wo menschliche Zwiste offen ausgetragen werden, den Familienverbünden aber eine so tiefe Zärtlichkeit eingeschrieben ist, daß man mit dem Regisseur seine Figuren lieben lernt. Das gilt zwar weniger für die beiden Jungen, die sich ihre Hörner abstoßen müssen, oder doch, für sie auch, dann aber insbesondere für Thomas, der am allermeisten sich ändern muß und kann, vorrangig jedoch stattet er die Ehepaare mit soviel Liebe aus, daß man beglückt sieht, daß es doch noch Ehen gibt, in denen man selbst leben könnte, wenn auch gerade diese durch den Tod von Damiens Vater und Ehemann Mariannes aufgelöst wird.

 

P.S. Wir vergaßen die Drehbuchschreiber zu fragen, ob die Benennung der Mutter von Damien als Marianne etwas mit der Nationalfigur der Französischen Republik zu tun hat, woraus ja ein Metonym für die französische Nation wurde. Von der Techineschen Marianne hätte Delacroix keine das Volk anführende Marianne gemalt, sondern eine, die wie von alleine die Menschen zum Kampf auf die Barrikaden bringt.