Die Wettbewerbsfilme der 66. Berlinale vom 11. bis 21. Februar 2016, Film 9/23

 

Claudia Schulmerich

 

Berlin (Weltexpresso) – Der jungen Regisseurin Anne Zohra Berrached gelingt etwas, was wirklich eine Kunst ist, eine Filmkunst. Sie zieht einen in einen Entscheidungskonflikt Zug um Zug so hinein, so daß nicht nur die Filmfigur Astrid keinen Ausweg mehr hat, sondern mit ihr auch der Zuschauer: soll das schwerstbehinderte Kind nach 24 Wochen Schwangerschaft voll ausgetragen werden, oder noch im Mutterleib sterben?

 

Daß man bei so schwerem ethischen Geschütz im Film auch viel zu lachen hat und außerdem auch Genaueres über Down-Syndrom (Trisomie 21) erfährt, ist von Vorteil. Nachdem wir nämlich die dreiköpfige Familie Astrid (Julia Jentsch), Markus (Bjarne Mädel) und die neunjährige Nele (Emilia Pieske) kennengelernt haben, wissen wir, daß sie eine erfolgreiche und freche Kabarettistin ist, von Markus gemanagt wird, mit dem sie seit 8 Jahren liiert ist, und wir auf eine liebevolle, geistreiche Ehekommunikation gestoßen sind, zu der Astrids Mutter Kati (Maria Dragus) patent hinzukommt, die nach dem Tod ihres Mannes erst einmal richtig zu leben angefangen hat.

 

Plötzlich ist Astrid schwanger und nachdem das Paar die frohe Botschaft unters Volk gebracht hat, stellt sich heraus, daß der Fötus im Mutterleib einer Genommutation unterliegt und mit 98prozentiger Wahrscheinlichkeit ein Down-Kind wird, ein vom zukünftigen Vater liebevoll Downie genanntes behindertes Kind. Wir werden als Zuschauer auch hier in den Entscheidungsprozeß miteinbezogen, wenn die Kleinfamilie eine Gruppe von Down-Kindern besucht, was mit dem Chorgesang beginnt und das aufzeigt, was diejenigen, die mit diesen besonders offenen, ja abgrenzungsunfähigen Menschen zu tun haben, sagen, nämlich wie spontan herzlich und zugewandt diese anderen Menschen gegenüber sind und geradezu oft als menschliche Eisbrecher fungieren und eine gute Stimmung produzieren.

 

Klar, das Paar einigt sich darauf, das Kind zur Welt kommen zu lassen, wobei von Anfang an der Vater noch stärker das Lebensrecht seines Kindes betont. Astrid und Markus ecken damit bei manchen an, aber gehen diesen Weg entschlossen und mit Offenheit gegenüber der Öffentlichkeit. Doch dann stellt sich nach Monaten, in denen Astrid ihre Auftritte wie immer erfolgreich und souverän absolviert, heraus, daß zwei Herzklappenfehler bei ihrem Kind hinzukommen, die zum einen unmittelbar nach der Geburt zur Operation (künstlicher Herzstillstand und OP) führen, der sich eine vier Monate spätere anschließt.

 

Und wenn wir sagten, wir sind beteiligt, bezieht sich das auf diese Phase, die die eigentliche Konfliktsituation im Film ist, weil sie zunehmend auch das gute Einvernehmen und die gemeinsame Entscheidungsbasis des Paares aushebelt und sich Frau und Mann, Mutter und Vater mit einer unterschiedlichen Interessenlage und einer von ihnen unterschiedlich getroffenen Entscheidung herumplagen müssen. Das Gesetz aber gibt der Mutter die alleinige Entscheidungskompetenz. Mehr wollen wir dazu jetzt nicht sagen.

 

Ja, der Film geht einem an die Nieren und gleichzeitig fühlt man, daß er ungeheuer wichtig ist, sehr aufrichtig, auch mutig und in einer Sprache und Dezenz von Unsagbarem spricht, daß man voller Respekt den Schauspielern auch auf der Pressekonferenz zuhört und sich an ihrem innigen Einvernehmen mit der gerade mal 33jährigen Regisseurin, die hier ihren Abschlußfilm der Ausbildung vorlegt, freut.

 

Julia Jentsch spielt ihre Rolle überzeugend und in jeder Minute ihres schwierigen Entscheidungsprozesses glaubwürdig. Die eigentliche Überraschung war für uns Partner Markus, dem Bjarne Mädel eine so warmherzige, stabile Persönlichkeit und eine außerordentliche Präsenz auf der Leinwand gab. Wir auf jeden Fall konnten uns über uns nur wundern, die wir gebannt auf die Leinwand schauten und ins uns ständig hofften, daß das Kind überleben werde, was eigentlich gegen jede Vernunft ist.

 

Direkt nach dem Schauen der Filme über ihre Relevanz zu den bei der Berlinale vergebenen Preisen zu urteilen, bevor man noch alle Filme gesehen hat, ist eh schwierig. Hier aber scheint klar, daß einer der Preise, ob Film oder Darstellung, diesem klaren, in Nahaufnahmen hervorragend fotografierten Film mit einem so zentralen Thema zusteht.

 

P.S. Wir kommen aus der Nummer nicht mehr raus, nach den Männern und den Frauen in den Filmen etwas direkter als sonst zu schauen, nämlich wie oft sie Handlungsträger sind oder inwiefern sie eher dem anderen Geschlecht als Hilfsinstrumente zur Mannwerdung zur Verfügung stehen. Wenn jetzt schon zum zweiten Mal bei 9 Filmen eine Frau Hauptperson ist entgegen den siebenmaligen männlichen Protagonisten, so müssen wir hinzufügen, daß die beiden Filme mit Frauen und gewissermaßen einer Frauenproblematik von den zwei einzigen im Wettbewerb teilnehmenden Regisseurinnen stammen. Das macht die Verfolgung der noch kommenden 14 Filme nun aber wirklich interessant.