Die Filme der 66. Berlinale vom 11. bis 21. Februar 2016

 

Kirsten Liese

 

Berlin (Weltexpresso) - Das gehobene Bürgertum kommt seit einiger Zeit im Kino seltener vor. Vielleicht, weil sich Claude Chabrol so an ihm abgearbeitet und es meist von sehr abgründiger, also negativer Seite gezeigt hat. Vielleicht liegt es auch daran, dass das Bildungsbürgertum immer mehr geschrumpft ist.

 

Jedenfalls widmen sich Filmemacher verstärkt den kleineren Angestellten, Ungebildeten und Unterprivilegierten. Etliche dieser Sozialdramen, so sie präzise, scharfsichtige Analysen bescheren wie das Kino eines Ken Loach oder auch Andreas Dresen haben Qualitäten. Aber ich muss zugeben, und das liegt vielleicht daran, dass ich älter werde: Filme, in denen Kraftausdrücke die Dialoge bestimmen wie etwa auch Sebastian Schippers Drama „Victoria“, unterfordern mich als Bildungsbürgerin auf Dauer.

 

Mir geht es da so wie Marcel Reich-Ranicki, der einmal beim literarischen Quartett im Disput mit Hellmuth Karasek über einen Sozialroman- der Titel ist mir leider entfallen – in seiner markanten Art gesagt hat: „Das ist alles gut und schön, der Autor schildert alles genau und realistisch, aberrrr dieses Milieu interresssiert mich nicht!“

 

Umso dankbarer bin ich, dass im aktuellen Berlinale-Wettbewerb immerhin zwei Beiträge die Bildungselite ansprechen. Der erste erzählt von einer innerlich starken Philosophieprofessorin, der man, vor allem über ihre Ausführungen zum Thema Wahrheit gebannt zuhört („L’Avenir“). Der zweite („Genius“) animiert dazu, am Beispiel des erfolgreichen Lektors Max Perkins, der im New York der 20er Jahre Autoren wie Hemingway, Fitzgerald und Wolfe herausbrachte, über die Rolle einer solchen Mittlerperson nachzudenken. Macht er ein Werk lesenswerter, wenn er wie Perkins mehr als die Hälfte herausstreicht, oder verstümmelt er es, wenn man bedenkt, dass Tolstois „Krieg und Frieden“ oder Marcel Prousts „Die Suche nach der verlorenen Zeit“ mehrere tausend Seiten umfassen. Dazu hätte mich die Meinung von Reich-Ranicki interessiert. Diesem Film hätte er bestimmt etwas abgewonnen.