Die Wettbewerbsfilme der 66. Berlinale vom 11. bis 21. Februar 2016, Film 19/23

 

Claudia Schulmerich

 

Berlin (Weltexpresso) – Die Franzosen haben es drauf beim Filmemachen, dabei ist es ein deutscher Regisseur, Dominik Moll, der hier mit leichter Hand  einen französischen Familienfilm auf die Leinwand zaubert, der uns hineinzieht in das Himmelsfirmament, die den Mars andeuten, wo es doch nur Philippe Mars (François Damiens) ist, der um die Gestirne kreist, die da Familie heißen.

 

Selten erlebte ich einen Schauspieler, den ich erst derart belanglos fand, die Rolle auch, den man am Schluß ins Herz geschlossen hat und ihn im eigenen Leben gerne kennen möchte, denn er ist ein guter Mensch, ein guter Vater und wäre eben ein guter Freund. Da ist man sich sicher. Mit dem Philippe Mars vom Anfang des Films dagegen möchte man weniger zu tun haben. Da erscheint er schwerfällig, unpädagogisch mit seinen Kindern, ist buchstäblich der nette Kerl, der für alles und jedes ausgenutzt wird – und eben tumb.

 

Daß er von seiner Fernsehkorrespondentin längst geschieden ist – o ja, da versteht man sie gut – ist die eine Seite, die andere, daß ihre Arbeit von einer Sekunde auf die nächste bedeutet, daß sie nach Brüssel aufbrechen muß, weil dort die EU tagt, die ein politisches Ergebnis braucht, was zeitlich nicht abzusehen ist. Die Kinder muß so lange der Vater nehmen, mitsamt der schmutzigen Wäsche, für die sie keine Zeit mehr hatte. Als sie wegfuhr, wußte sie wohl auch nicht, daß die politische Prozedur ganze 10 Tage dauert.

 

Inzwischen haben wir Philippe am Arbeitsplatz kennengelernt – ja, was genau macht er da? Auf jeden Fall wird er immer auf die Kollegen angesetzt, die es alleine nicht schaffen, wobei er es schafft, daß die anderen ihn nicht als Konkurrenz sehen. Das ändert sich leicht, als er Jerome (Vincent Maligne)  beistehen soll, der schon durchschaut, daß die Firma ihn durchschaut hat und der uns im Film noch Freude bereiten und Angst machen wird.

 

Zu Hause haben wir die jugendlichen Kinder kennengelernt. Ein absolut nerviger Hardcore-Vegetarier, dem der Vater in seinem Unverständnis („Am Speck ist noch keiner gestorben“) nicht nachsteht. Überhaupt ist dieser Vater nicht in der Lage, auf die Befindlichkeiten seiner Kinder einzugehen. Seine Tochter lernt unaufhörlich mit einem Mitschüler und sieht jede Minute ohne Lernen als einen Lebensverlust an, eine richtige Streberin, mit der wir erst dann Mitgefühl gewinnen, wenn wir merken, daß es das Zusammensein mit dem Mitschüler war, was sie anspornte. Der dagegen hatte nur ihr Wissen abgeschöpft und als er genug von ihr erfahren hatte, läßt er sie sitzen und sie wird die Verliererin, eine Rolle, die sie dem Vater, einem geborenen Looser am Anfang zugewiesen hatte.

 

Bleibt noch die Schwester, eine merkwürdige Type und Künstlerin, die gerade eine Ausstellung eröffnet, wo sie großformatige Nacktporträts von den verstorbenen Eltern ausstellt, wo der ältere Vater ein ellenlanges Glied und die ebenfalls alte Mutter nackt daneben sitzt. Philippe ist das peinlich und er bedauert seine Eltern, die ihm immer wieder erscheinen und ihm den Weg weisen – und, das wissen nur wir, im Film ihr himmlisches Dasein dazu nutzen, die gröbsten Schnitzer, die Philippe passieren, zu mildern.

 

Jerome hat durchgedreht, alles klein geschlagen, erst in der Firma, aber er wütet weiter, weshalb er in die Psychiatrie kommt. Dort aber entwischt er und steht eines Abends mit einer Mitpatientin Chloe (Veerle Baetens) vor der Tür. Er will nahe der Grenze ein Ding in die Luft jagen, wo Tierversuche stattfinden. Nein, so weit will Philippe nicht gehen, Jerome und seine Begleiterin nicht,  aber sein alter Nachbar, so erzählt ihm der Sohn, bringe die beiden mit dem Auto hin.

 

Nichts wie hinterher und längst erleben wir einen anderen Vater mit dem Sohne und der Tochter auch. Denn Philippe hat angefangen, seinen Kindern zuzuhören, er hat angefangen, auf sie einzugehen und sie merken den Unterschied und gehen auch ihrerseits mit ihrem Vater anders um. Auf der Autofahrt, dem zündelnden Paar und dem alten Nachbarn hinterher, erlebt man das Verhältnis von Vater und Sohn schon als ein solches, wie man es aus den unvergeßlichen Bildergeschichten von O.E. Plauen kennt: Vater und Sohn. Dort nämlich ist der Vater der Träumer, der als guter Vater alles für den Sohn tut. Der Sohn dagegen ist der Realist, der die Dinge einschätzt und sein Verhalten danach ausrichtet.

 

So erleben wir auf einmal den Jungen, der verständig wird und sogar seine Froschsammlung in der Natur aussetzt, nachdem die Frösche den Autounfall überlebt hatten und Philippe sie aus dem brennenden Auto gerettet hatte, kurz bevor es in die Luft ging.

 

Daß er ein anderer geworden ist, sieht man auch an den handfesten Reaktionen, mit denen er auf den kleinen Hund seiner Schwester reagiert, die nach New York abdampft und trotz dessen Weigerung – Philippe hat eine Katze – ihn einfach bei Philippe abliefert.

 

Daß er zudem selbst durch Fernsehapparate hindurch mit seiner Exfrau auf der Mattscheibe sprechen kann, ist eine weitere feine, so richtig skurrile Idee. Denn die 'Gurke' geistert durchs Fernsehen, darum hatte nämlich der Sohn seine Mutter gebeten, doch in den Kommentaren zur politischen Situation einmal 'Gurke' zu sagen. Und nun, genau bei der letzten Reportage – das ist hinreißend inszeniert – da spricht Philippe sie an – und sie im Fernseher hört ihn irritiert, setzt wieder an, hört ihn erneut – und endlich fällt das erlösende Wort 'Gurke'.

 

Was haben diese zwei Jugendlichen für tolle Eltern bekommen und die Eltern auf einmal verständige Kinder. Ein Film, der so locker daherkommt, es aber faustdick hinter den Ohren hat.