Die Wettbewerbsfilme der 66. Berlinale vom 11. bis 21. Februar 2016, Film 20/23
 
Claudia Schulmerich
 
Berlin (Weltexpresso) – Das gab es noch nie auf einem Filmfestival: einen acht Stunden langen Film. Am Donnerstag, dem vorletzten Festivaltag. Aber, so dachten wir, wer unbeschadet den 24-Stunden-Ring von Erl aushält, wo fast 16 Stunden der Ring des Nibelungen aufgeführt wurde, der hält auch einen achtstündigen Film aus. Und was soll man sagen: es war das reinste Vergnügen. Sicher, eines, das man sich erst einmal ersitzen mußte.


Der Anfang war schwer. Zu unbekannt ist die philippinische Materie und so wurde einem sehr schnell deutlich, daß man sich - danach - zu Hause in Ruhe mit den Philippinen beschäftigen will, auch wenn für das Verständnis des Films nicht wichtig ist, daß rund 100 Millionen Filippinos auf diesen Tausenden von Inseln leben und 171 Sprachen sprechen. Daß rund 90 Prozent der Bevölkerung katholisch sind, ist für den Film nicht unwichtig. Noch wichtiger ist es, José Rizal zu kennen, Nationalheld und Verfasser des Gedichts MI ULTIMO ADIOS, sein letztes Lebewohl, was er aufschrieb, als er von den Spaniern in der philippinischen Revolution 1896-98, der Befreiungskrieg gegen die 300jährige Besetzung durch Spanien, hingerichtet wurde, obwohl er noch nicht mal an den Aufständen beteiligt war. Aber sein Gedankengut.

Und mit dem Niederschreiben seins letzten Lebewohls beginnt dieser Film, der von Anfang an in schwarzweißen Bildern eine manchmal geradezu unheimliche Atmosphäre schafft. Hier, wo der Dichter am Tischchen vor dem Fenster sitzt und ein Licht zusätzlich leuchet, fällt zum ersten Mal das Beleuchtungskonzept des Films auf, das eben nicht Schwarz und Weiß kennt, sondern eine unendliche Folge von Hellldunkel, von - wie die Kunstgeschichte sagt - Chiaroscuro, von differenzierten Grautönen, die sich so richtig entfalten, wenn wir sehr schnell im Dickicht der Wälder sind, einer strotzenden Natur, wo allein das Unterholz undurchdringlich erscheint und man vor sich hinfühlt, daß man dort nicht verloren gehen möchte. Dieses Dickicht der Wälder ist so fern wie nah. Es sind meterhohe Farne, es sind Avocadosträucher, hochaufragende noch nie gesehene Bäume - und trotzdem vertraut.

Regisseur Lav Diaz, der 17 Jahre an diesem Film gearbeitet hat, wird nachher sagen, er habe sich ästhetisch bei seinen Aufnahmen am deutschen Film des Expressionismus orientiert. Und erst dann fällt es einem ein, woran die Leinwand, die überwiegend üppigen, undurchdringlichen Wald zeigt, einen gemahnt, an die Zeichnungen von Albrecht Dürer und anderen Künstlern der deutschen Renaissance, die ja tatsächlich Vorbilder des Expressionismus waren. Wie sich hier ein Kreis schließt, ist phantastisch.

Worum es geht? Um ein Amalgam der philippinischen  Mythologie, ihrer Geschichte und ihrer Literatur, das wir auf vielfachen Wegen durch diesen Dschungel verfolgen, wo sich Gruppen von Menschen zusammentun und miteinander oder gegeneinander agieren. Es kommt einem vor, als ob der Regisseur in der unendlichen Geschichte des Landes auf verschiedenen Bühnen Stücke reproduzieren lasse, wo jeweils ein Scheinwerfer drauffällt und wir dies auf der Leinwand sehen, während wir auf einmal wieder in einer anderen Geschichte sind, die aber alle in der Geschichte des Landes und dort in der Natur des Landes, ihren Gewässern, ihren Höhlen und eben zwischen den Pflanzen spielen.

Neben dem Dichter, der von der spanischen Herrschaft erschossen wurde, geht  es um einen weiteren Nationalhelden: Andrés Bonifacio, der ebenfalls ermordet wurde und den seine Witwe nun in den Wäldern sucht, hoffend, daß er noch lebt, aber auf jeden Fall will sie seine Leiche beerdigen. Dann gibt es noch den verwundeten spanischen Statthalter, wobei wir über dessen Schuld uns nicht klar wurden, abgesehen davon, daß in Unrechtsstaaten die Vertreter der Legalität immer am Unrecht beteiligt sind. Über allem schwebt eine Aura von Unheil und zwangsläufigem Schicksal, das durch die wie eine Geheimgesellschaft auftretenden Mönche, zumindest eine größere Priesterversammlung noch verstärkt wird.

Nicht zu vergessen die drei Tikbalang. Das sind drei Mischwesen, ein schwuler Mann, eine weibliche Schönheit und ein androgynes Zwitterwesen, die tatsächlich in der philippinischen Mythologie verwurzelt sind und wenn man im Zusammenhang mit diesem Wald von Wurzeln spricht, dann weiß man, daß diese tief, sehr tief in den Boden hineingewachsen sind, weshalb eine Lieblingsbeschäftigung der Leinwandhelden ist, mit Stöcken und Schaufel und Spaten die Erde aufzugraben. Man erwartet lauter Gräber, was nicht ausgeführt wird, aber wir wissen, daß in diesem Film alles vom Werden und Vergehen handelt und darum, sich seiner eigenen Verantwortlung als geschichtliches Wesen auf der Welt zu stellen.

Und wenn es eine geheime Botschaft des Films gäbe, so erkennen wir sie in der Vielfalt menschlichen Lebens, wo man mit Verantwortung sich seiner Rolle bewußt werden sollte und sie selbstbestimmt lebt.

Noch ein Wort zu den Schauspielern, die wir nicht alle aufführen können und die teilweise wie Waldgeister erschienen. Sie sind von einer Eindringlichkeit, wozu die Sprache gehört, die wir nicht kennen, weshalb die Untertitel eine ausreichende inhaltliche Orientierung geben. Einige der Charaktere aber sprechen Spanisch. Und da wunderten wir uns. Das Spanische klingt nicht nach Spanien, sondern nach Amerika. Das hörten wir richtig und das hat einen Grund.

Nach den Spaniern besetzten die USA die Philippinen, weshalb auch Englisch Amtssprache wurde und sich in der Folge das US-Spanisch auch auf den Philippinen durchsetzte, zusammen mit dem mexikanischen Spanisch, weil Mexiko ebenfalls involviert war. Daß dann eine der Hauptpersonen im Film, Cesaria, ihren großen Auftritt in einer Selbstanklage als Verräterin am eigenen Volk hatte, wundert einen dann nicht mehr. Wie einst bei den Azteken Malinche dem spanischen Eroberer alles verriet, so zeigte Cesaria den spanischen Statthaltern die Geheimverstecke, Geheimwege und Vorhaben der Revolutionäre.

Im Nachhinein bedauert sie das tief und wird von ihren Mitschwestern nicht massakriert, sondern ob ihrer Verfehlung, unter der das ganze Volk leidet, sogar getröstet. So kommt einem nach acht Stunden, in denen man wie eine Pflanze das Geschehen auf der Leinwand in sich aufnahme, erst so recht zu Bewußtsein, wie christlich die eigentliche Botschaft des Films uns unter die Haut geht, wenn vom Verzeihen, vom Vergeben gesprochen wird und man gewahr wird, daß man überhaupt keine Kämpfe gesehen hatte, sondern nur Menschen, die gegen ihre inneren Dämonen kämpften und denen der Film gewissermaßen sagt: "Jetzt verzeih Dir endlich und lebe."