Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 6. Oktober 2016, Teil 5
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Doch der Film hat etwas. Er überrascht mit einer Handlung, die man im Kopf anders weiterspinnt und zwingt einen dadurch, ständig genau hinzuschauen und vor allem hinzuhören, was an diesem ungewöhnlich gewöhnlichem Ort passiert.
Lange weiß man nicht, in welcher Landschaft Deutschlands man sich befindet, noch ob es eine bewohnte oder eine Waldgegend ist, denn die Wohnung, in der Karsten (Sebastian Hülk) eine Nacht hindurch eine Party feiert, hat einen schönen Blick ins weite Grüne und erst spät sieht man, daß die Fenster auf der anderen Seite in dichte Besiedelung blicken. Und spätestens als dann vom Erlebnisaufzug die Rede ist, weiß der Eingeweihte, daß wir in Altena sind, der wenig bekannten Kleinstadt in Westfalen mit einem hinreißenden Burgberg...aber da sind wir dem Film schon voraus, denn erst einmal entdeckt die nach Hause kommende Freundin und Mitbewohnerin Laura (Julia Jentsch) die gewaltige Unordnung, die Reste einer typischen Partynacht. Eklig.
Viel schlimmer ist, was nach und nach herauskommt und Schritt für Schritt immer mehr mit Karsten zu tun haben wird: eine fremde junge Frau, Anna (, Ehefrau eines Russen und Mutter eines Sohnes, bleibt zurück in der Wohnung als alle gehen, plötzlich ist sie tot. Karsten hat keine Gewalt angewendet, doch das weiß nur er, sein Verhalten wird aber durch eine Salamitaktik der Informationen erst merkwürdig und dann verdächtig. Er hat nämlich, sie lebte noch, nicht den Notarzt angerufen, sondern ist in eine benachbarte Klinik gelaufen, von der man dann später hört, daß sie seit fünf Jahren aufgegeben ist, was der Nachbar Karsten nicht wußte.
Dieses dräuende Unbehagen, das der Zuschauer eindringlich fühlt und die zunehmende Angst des Hauptdarstellers, was dahintersteckt, daß immer weniger ihm glauben, die Freunde, die doch alle bei der Party waren und die Freundin, die erst mal eine Stütze für ihn ist, bis diese Sache mit der Unterhose in ihrem Schrank passiert, die sie findet, die aber ihr nicht gehört. Die ins Sofa gesteckte Strumpfhose bringt dann dieses wachsende Mißtrauen zum Kochen.
Höchste Zeit von der erstaunlichen Regisseurin Asli Özge zu sprechen, die ihrem Film ein Zitat aus Shakespeares „Hamlet“ voranstellt: „Denn an sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu“. Man muß das Jahr 2016 wirklich zum Jahr der weiblichen Regie im deutschen Film erklären, die richtig guten Frauen kommen von den Frauen. Denn der Film wirkt nicht nur durch seine unberechenbare und darum immer spannend bleibende, ja immer spannender werdende Geschichte um den doch so braven Karsten, Bankangestellter mit der Aussicht auf mehr, denn sein Vater ist einer der Honorablen von Altena.
Nein, nicht die Geschichte selbst ist die Sensation, sondern wie die Regisseurin mit uns doppelt und dreifach spielt, aber sich ganz einfach gibt. Der Ablauf wird aus der Perspektive des Karsten erzählt, weshalb wir ihm auch erst einmal glauben und nur vorsichtiger werden, weil er auf einmal mit Dingen herausrückt, die er vorher verschwieg oder sogar leugnete. So kannte er zum Beispiel Anna, die doch angeblich durch eine Freundin ins Haus kam und in der Tat hatten die beiden Angetrunkenen auch etwas vor…
Aber nein, mehr darf man jetzt nicht erzählen, denn die kunstvoll gestrickte Enthüllung führt über Berg und Tal und zeigt ein soziales Lernen des Karsten, das man ihm nie zugetraut hätte.
Worum es im Innersten geht, ist die Welt einer solchen Kleinstadt am Beispiel Altenas vorzuführen, wo Karstens Vater maßgeblich diesen Erlebnisaufzug spendiert hatte, der nun die Touristenströme in die Stadt holen sollen, gibt es doch auf dem Berg nicht nur Mittelalter, sondern auch die älteste Jugendherberge der Welt. Echt. Wir erleben die gutbürgerliche Gesellschaft, die Heuchler, die Lügner, die Zurechtkommer, die Wegseher, die Gemeinen und eigentlich gar keine Guten. Es geht um Schein und Sein, um Schuld, es geht um Gerechtigkeit und auf welche Weise sie herzustellen ist. Schließlich geht es um Wahrheit und auch darum, daß es nicht nur eine Wahrheit gibt, sondern sie viele Facetten aufweist. Kommt immer darauf an, aus welcher Richtung man den Schein darauf wirft.
Info:
AUF EINMAL ist der dritte Spielfilm der in Istanbul geborenen und seit 2000 in Berlin lebenden Regisseurin Aslı Özge, der zur Berlinale 2016 in Panorama Special aufgeführt wurde. Ihr Kinofilmdebut MEN ON THE BRIDGE feierte 2009 seine internationale Premiere in Locarno und wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, unter anderem als Bester Türkischer Film. Ihr zweiter Spielfilm LIFELONG lief im Berlinale Panorama Special 2013. AUF EINMAL ist ihr erster deutschsprachiger Kinofilm.