Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 6. Oktober 2016, Teil 6

 

 Rüdiger Suchsland

Berlin (Weltexpresso) - "AUF EINMAL ist ein Psychothriller. Sie erzählen die Geschichte eines jungen Mannes, aber Sie zeigen auch die Gesellschaft; viele andere Menschen, den ganzen Freundeskreis, und die Familie. Aber aus seiner persönlichen Perspektive ..."

 

Özge: Ja, es gibt keine einzige Szene ohne dass die Hauptfigur darin zu sehen ist. Ich wollte den Zuschauern nichts verraten, was Karsten nicht weiß. Das bedeutet, dass sie ihm keinen Schritt voraus sind, und dadurch haben sie die Möglichkeit, alles so wahrzunehmen, wie Karsten. Aber gleichzeitig sollen die Zuschauer immer beurteilen, ob das, was Karsten erzählt, auch die Wahrheit ist oder nicht.

 


Am Anfang begegnen wir einer Frau, die bald darauf tot sein wird. Ein sehr starker Beginn. Man will mehr von ihr wissen ...


Özge: Mein Gedanke war, dass es ein paar kurze, aber ganz intensive Momente sind, die die Zuschauer mit ihr verbringen. So intensiv, dass diese Momente dann über den ganzen Film nachwirken, und dass man mehr über sie erfahren möchte. Ich denke aber: Wie im Leben müssen wir auch im Kino nicht alles zu Ende erzählen.

 


Vor dem ersten Bild sehen wir ein Shakespeare-Zitat: »An sich ist nichts weder gut noch böse; das Denken macht es erst dazu.« Es stammt aus »Hamlet«. Warum?


Özge: Auf eine Art kann AUF EINMAL als die Geschichte eines modernen Hamlets gesehen werden. Als ich das Drehbuch geschrieben habe, habe ich oft an Hamlet gedacht, und wie er die Scheinheiligkeit seines Umfelds erlebt. Es gibt auch eine Szene, die direkt auf das Stück verweist: Die Szene, in der Karsten auf dem Friedhof am singenden Totengräber vorbeigeht. Und generell kann man Karsten als Prinzen sehen, den Sohn des Provinz-Königs.



AUF EINMAL spielt in einer Kleinstadt. Was waren Ihre Überlegungen?


Özge: Ich wollte auf jedem Fall in einem Ort mit Bergen drehen, einen von vier Seiten visuell geschlossenen Ort, der den Eindruck des Eingesperrt-seins hervorruft. Wir haben dafür lange gesucht und Altena gefunden, eine Stadt mit 17.000 Einwohnern. Dort wurden wir stark unterstützt, die halbe Stadt spielt auch mit – ein ideales Filmset, mit seinen verwinkelten Gassen. Bis zum Rand des Bildes sieht man Wald und Berge.

 


Fast ein romantisches Deutschlandbild. Sie haben im Herbst gedreht ...


Özge: Zusammen mit meinem Kameramann Emre Erkmen habe ich für eine Farbdramaturgie entschieden, die auf Herbstfarben, zum Beispiel Rostrot, Braun, Gelb basiert – im Production Design, im Kostümbild und auch in der Natur. Deshalb wollten wir unbedingt im Herbst drehen und wir haben alles dafür getan, genau den Moment treffen, an dem die Blätter sich färben. Blau war zum Beispiel streng verboten. Es gab visuelle, aber auch erzählerische Gründe dafür: Ich wollte Melancholie, aber keine depressive Stimmung haben. Es war eine bewusste Entscheidung, die Provinz nicht als etwas Hässliches zu zeigen. Da sind Menschen, die sich ein bisschen nach der Stadt sehnen, aber sie haben dennoch Gründe dortzubleiben.

 


Wie haben Sie mit den Schauspielern gearbeitet?


Özge: Ich bin jemand, der sehr stark auf den Moment am Set vertraut. Die Schauspieler bekommen von mir kein komplettes Drehbuch. Sie müssen ihren eigenen Text lernen, und wissen das, was ihre Figuren wissen, aber nicht mehr. Ihnen fehlt das Gesamtbild, aber sie kennen ihre eigene Rolle gut. Damit konnten sie am Set spontane Reaktionen herstellen. Ich versuche eine Vergangenheit zwischen den Figuren zu bauen und deswegen mache ich zur Vorbereitung intensive Proben. Dazu gehören auch körperliche Übungen, damit die Schauspieler sich gegenseitig auch in schwierigen Situationen erleben.

 


Ein Thema des Films ist Betrug, Loyalität und Treue. Die Figuren nehmen das sehr ernst ...


Özge: Eigentlich nicht. Ich glaube für meine Figuren ist das Image, ihr öffentliches Bild, das Zentrale. Was denken die anderen von mir? Diese Frage ist ihnen wichtiger, als das, was wirklich passiert. Darum wäre ein heimlicher tatsächlicher Betrug das viel geringere Problem, als der Anschein eines Betrugs, an den aber alle Leute glauben.

 


Sie zeigen ganz nebenbei alle sozialen Institutionen: Krankenhaus, Polizei, Gericht, Rechtsanwalt, Kirche, Bank, Versicherung, Geschäftswelt, die Politik über den Bürgermeister.
Die Geschichte ist also nicht nur eine private, sondern Sie zeigen Mechanismen: Wie einer sich anpasst, in das Machtsystem integriert wird. Darum zeigen Sie nicht nur die Jugend eines einzelnen Menschen namens Karsten, sondern die Jugend eines sozialen Typus, der nicht nur Karsten heißt.


Özge: Ich wollte einen Film über die Gesellschaft machen. Warum hat Karsten im entscheidenden Moment nicht richtig gehandelt? Das ist die zentrale Frage. Die Antwort liegt in dem inneren Druck, unter dem er steht. Mir scheint, wir kennen alle dieses Problem: Man will sein Image in der Gesellschaft schützen, seine Position nicht verlieren, nicht zum Talk of the town werden. Wenn man wie Karsten in einer kleinen Stadt als Sohn eines bekannten Bürgers lebt, ist es erst recht essentiell, sich »richtig« zu benehmen. Er weiß zwar nicht, ob er das wirklich will, aber er hat sich daran gewöhnt.

 


Einmal scheint er vor dieser Gesellschaft wegzulaufen...


Özge: Stimmt. Vielleicht sollte man die Frage stellen, ob alle Menschen, die heute an den Mechanismen festhalten, irgendwann davon träumen, auszusteigen und wegzulaufen.

 


Gibt es eigentlich Unterschiede in dem Verhalten, das sie beschreiben? Ist Ihre Geschichte eine typische Männergeschichte oder würden Frauen genauso handeln?


Özge: Im Film ist jeder Figur ihr eigenes Image am Wichtigsten. Daher handelt auch der Charakter der Laura ähnlich wie Karsten. Ich finde den Charakter von Karstens Mutter auch wichtig. Denn sie ist die einzige, die einmal die zentrale Frage ausspricht: »Warum hast du so gehandelt?« Und es ist besonders bitter, wenn so eine harte Frage von der eigenen Mutter kommt. In dem Moment versteht Karsten: Es ist zu spät für ihn. Er ist schon längst Teil dieser Welt und kann ihr nicht mehr entfliehen. Am Anfang des Films hat er seinen Vater noch kritisiert, aber dann begreift er, wie der Vater denkt und versteht, dass er genauso ist.

 


Glauben Sie nicht, dass es Freiheit gibt? Dass Menschen auch ihren sozialen Hintergrund völlig hinter sich lassen können?


Özge: Auf jeden Fall gibt es Freiheit. Darum habe ich eine reichere Mittelschichtfamilie für meine Figuren gewählt. Denn in der Mittelschicht dominiert das Angebot des Konformismus. Karsten nimmt alles mit, was ihm seine Eltern bieten. Er hat die schöne Wohnung mit vielen Büchern, und er ist ein bisschen Bohème. Er hat es sich komfortabel eingerichtet, und es ist einfach für ihn, so zu leben. Aber dadurch hat er sich nie wirklich von seinen Eltern gelöst.

 


Sie erzählen vom Erwachsenwerden. Ist das ein Coming-of-age-Film?


Özge: Eher spätes Erwachsenwerden, zu spätes. Zum ersten Mal macht Karsten sich Gedanken. Aber sobald seine Eltern anwesend sind, wird er wieder zum Kind. Am Anfang des Films ist er ein passiver Charakter, der alles akzeptiert. Seine Rebellion, wenn sie denn stattfindet, ist klein, bis er anfängt, sich zu rächen.

 


Er hat großes Selbstmitleid ...


Özge: Aber er hat auch Schuldgefühle. Deswegen kritisiert er sich selbst stark, und es gibt ja nichts härteres, als Selbstkritik. Am Anfang ist er immer noch naiv, aber langsam lernt er die Wahrheit kennen – auf die harte Tour.

 

 


Sie selbst sind geborene Türkin, aber schon sehr lange in Deutschland. Wie beschreiben Sie Ihre Identität als Filmemacherin?


Özge: Das frage ich mich auch gerade. [Lacht] Ich komme aus Istanbul und habe dort Film studiert. Seit dem Jahr 2000 lebe ich auch in Berlin. Ich fühle mich sehr wohl hier. Ich bin eine Filmemacherin mit türkischen Wurzeln, mit einem deutschen Film.

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Kurze Biographie
Geboren in Istanbul, lebt seit 2000 auch in Berlin. Nach ihrem Studienabschluss an der Marmara Universität, Film- & TV-Akademie drehte sie Kurzfilme und einen Dokumentarfilm. Ihr Kinofilmdebut MEN ON THE BRIDGE feierte 2009 seine internationale Premiere in Locarno und wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, unter anderem als Bester Türkischer Film. Ihr zweiter Spielfilm LIFELONG lief im Berlinale Panorama Special 2013. AUF EINMAL ist ihr erster deutschsprachiger Kinofilm.


Filmographie
2000 CAPITAL C, Kurzfilm · 2003 LITTLE BIT OF APRIL · 2005 HESPEROS’ APPRENTICES, Dokumentarfilm · 2009 MEN ON THE BRIDGE · 2013 LIFELONG · 2016 AUF EINMAL

 

Foto: Aslin Ozge (c) Filmheft AUF EINMAL

 

Info: Abdruck aus dem Filmheft zu AUF EINMAL