Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 1. Dezember 2016, Teil 10

Filmheft

Paris (Weltexpresso) - „Ich stelle mir immer zuerst die Frage, warum ich einen bestimmten Film machen mo?chte. Schließlich widme ich ihm fast zwei Jahre meines Lebens und viel harte Arbeit. Im Fall von EIN LIED FU?R NOUR war die Antwort klar und einfach.

Die Geschichte dieses jungen Mannes, Mohammed Assaf, ist so unglaublich, dass selbst ich, der damals erst drei Wochen zuvor den Jury-Preis in Cannes gewonnen hatte, mich mehr für Assaf und seinen „Arab Idol“-Sieg freute als über meinen eigenen Erfolg. Auch ich war dabei, als sich zum Finale Tausende auf dem Platz in Nazareth versammelten, um das Live-Voting mitzuerleben. Ich hüpfte herum wie ein kleiner Junge, so begeistert war ich schon ewig nicht mehr gewesen. Als (Produzent) Ali Jaafar mir anbot, Mohammed Assafs Geschichte zu verfilmen, hatte ich Gänsehaut. Ich wusste sofort, dass ich alles daransetzen würde, um einen großartigen Film daraus zu machen.
Ich sehe EIN LIED FÜR NOUR als die Geschichte eines Kampfes, eine Geschichte über den Willen zum Überleben unter extremen Umständen. Sie erzählt von Hoffnung und Erfolg, von Bruder und Schwester, die sich ihre Benachteiligung zum Vorteil und das Unmögliche möglich machen. Sie kommen aus dem Niemandsland und überwinden sämtliche Hindernisse: Armut, Unterdrückung, Besatzung. Sie besitzen die große Gabe, praktisch aus dem Nichts etwas Schönes zu erschaffen, Abscheulichkeit in Schönheit zu verwandeln. Genau das ist letztlich die treibende Kraft hinter jeder Form von Kunst. Und ohne Kunst kann es keine Hoffnung geben.“, legt Hany Abu-Assad seine Posiiton fürs Filmemachen fest.

 

INTERVIEW MIT REGISSEUR HANY ABU-ASSAD

Ihre vorigen Filme waren schonungslose Sozialdramen: die Selbstmordattentäter in PARADISE NOW, der frustrierte palästinensische Jugendliche OMAR. Mit EIN LIED FÜR NOUR haben sie nun einen Wohlfühlfilm mit viel Musik gedreht. Was hat Sie daran gereizt?


Die Erkenntnis, was Kunst – und zwar in jeder Form – eigentlich bedeutet: Sie kann Hässlichkeit in etwas Schönes verwandeln. Inhaltlich sind alle drei bittere Geschichten, aber in ihrer Erzählform sind sie positiv, bewegend und mitreißend. Und wenn Musik so schön ist wie hier, dann kann man gar nicht anders, als ergriffen zu sein. Mein Job besteht darin, aus einer traurigen eine schöne, anrührende Geschichte zu machen.

 


Darum ging es auch Mohammed Assaf – unter widrigsten Umständen etwas Schönes zu erschaffen. Wollten Sie seine unglaubliche Geschichte deshalb verfilmen?


Mohammeds Biografie hat zwei Ebenen. Einerseits geht es um Hoffnung und Hartnäckigkeit, andererseits ist es eine überwältigende Erfolgsstory. Die vergangenen 60 Jahre der palästinensischen Geschichte schließen solche Triumphe eigentlich aus. Unsere Fußballmannschaften gewinnen keine Turniere, die Revolution in den 1960er-Jahren ist gescheitert. Aber Mohammed hat uns einen Triumph geschenkt, nach dem sich ein ganzes Volk gesehnt hat. Er hat es tatsächlich geschafft, er hat gesiegt.

 


Und auch sich selbst einen Traum erfüllt.


Da finde ich die Dynamik besonders interessant. EIN LIED FÜR NOUR erzählt von einem Jungen und seiner Schwester, von ihrer innigen Beziehung. Sie wünscht sich, dass ihr Bruder ihren Traum lebt. Er ist bereit, alles zu tun, damit sie eine Spenderniere bekommt, doch er kann ihr nicht helfen. Dass er Nour letztlich ihren großen Traum erfüllt, ist seine Art der Wiedergutmachung, eine Art Absolution. Das ist emotional hochspannend.

 


Wann sind Sie Mohammed Assaf zum ersten Mal begegnet?


Das war 2014 in Jordanien, nachdem man mit dem Projekt an mich herangetreten war. Und mein erster Eindruck von Mohammed war: Was für ein unfassbar umwerfender Typ! Er könnte jeden dazu bringen, sich in ihn zu verlieben.

 


Da Sie so begeistert von Mohammed sind: War es nicht umso schwieriger, die richtigen Darsteller zu finden? Den jungen und vor allem den erwachsenen Mohammed, den wir bei „Arab Idol“ erlebt haben?


Stimmt, das Casting war die größte Herausforderung bei diesem Film. Unser Hauptdarsteller sollte möglichst aussehen wie Mohammed und auch noch singen wie er. Aber das ist schlicht unmöglich. Wir haben uns schließlich davon verabschiedet, dass unser Mohammed dem Original besonders ähnlich sehen muss. Viel entscheidender ist ja, jemanden zu finden, der emotional die richtigen Töne trifft, sodass man mit ihm fühlt und ihn gern bis zum Schluss begleitet.

 


Wie hat Tawfeek Barhom Sie von sich überzeugt?


Ich will nicht zu viel vorwegnehmen. Nur so viel: In seinen Augen lag eine Traurigkeit ... Ich glaubte ihm sofort, dass er mit einem großen Verlust fertigwerden muss.

 


Und wie haben Sie die Kinderdarsteller gefunden?


Das war wesentlich einfacher. Ich konnte nicht selbst nach Gaza fahren. Deshalb bat ich einen befreundeten Filmemacher, der in der Region lebt, sich vor Ort umzusehen und mir Videos zu schicken. Es kamen tatsächlich eine ganze Menge, die ich mir alle angesehen habe – es waren bestimmt hundert. Zunächst trafen wir eine Vorauswahl – irgendwo zwischen 20 und 30 Kandidaten –, die ich dann per Skype interviewte und ihnen kleine Aufgaben stellte. So lernte ich alle ein wenig kennen. Bei unserer Skype-Session fiel mir zum Beispiel auf, dass Qais (Attalah) in seiner Art große Ähnlichkeit mit dem Mohammed aus unserem Drehbuch hatte. Abdalkarim Abubaraka besetzten wir als seinen Freund Omar, Ahmad Quassim als den jungen Ahmad. Auf demselben Weg fanden wir auch unsere Nour, Hiba Attalah. Insgesamt war es ein zwar langwieriger, aber unkomplizierter Prozess. Denn am Ende unserer Skype-Gespräche wusste ich ganz genau, wer wen spielen soll.


Im Filmgeschäft heißt es ja: Arbeite nie mit Kindern und Tieren ... Die vier sind aber wirklich beeindruckend. Woran erkennen Sie, ob ein Kind spielen kann?


Das gilt ja nicht nur für Kinderdarsteller. Woher weiß man, ob ein Schauspieler bereit ist, alles zu geben und echte Gefühle zu zeigen? Ein guter Sänger beherrscht seine Stimme so, dass er eine wunderschöne Melodie zustande bringt. Ein Schauspieler muss durchaus in der Lage sein, seine Gefühle zu kontrollieren – soweit, dass es für die Zuschauer glaubwürdig wirkt. Das ist bei jedem Casting das Wichtigste: Ich teste, ob sie ihre Gefühle im Griff haben.

 


Warum haben Sie beschlossen, Mohammeds Geschichte in zwei Teilen zu erzählen, mit zwei Darstellern?


Weil für mich schnell klar war, dass die Beziehung zwischen Mohammed und Nour das Herzstück ist. Da fand ich es am besten, am Anfang den jungen, naiven Mohammed zu zeigen. Als jungen Mann sehen wir ihn erst kurz vor dem „Arab Idol“-Casting. Diese Zeitspanne ist so groß, dass wir definitiv zwei Schauspieler brauchten.

 


Sie treten selbst in EIN LIED FÜR NOUR auf und haben Ihrer Regie-Kollegin Nadine Labaki (CARAMEL), die auch als Schauspielerin bekannt ist, eine Rolle gegeben. War es wichtig, arabische Prominente dabeizuhaben?


In erster Linie wollte ich vertraute Gesichter, wie eben Nadine oder auch den Schauspieler Ashraf Barhom (DIE SYRISCHE BRAUT, 300: RISE OF AN EMPIRE), der in Palästina ein Riesenstar ist. Warum? Weil unser Film eine Hymne auf persönlichen Erfolg ist. Und erfolgreiche Leute wie Nadine oder Ashraf sind eine zusätzliche Inspiration.

 


Wie war es für Sie, nach heftigen Dramen ein Feelgood-Movie zu drehen?


Es war herrlich! Bei PARADISE NOW habe ich mich ähnlich gefühlt wie die Protagonisten im Film. Wir sind beim Dreh in heikle und sogar richtig gefährliche Situationen geraten. Einige Crewmitglieder wären fast getötet worden. Auch bei OMAR ging es mir wie dem Titelhelden: Ich war regelrecht paranoid und hasste die ganze Erfahrung dermaßen, dass ich mir nach Drehschluss schwor, nie wieder einen Film zu machen. Bei EIN LIED FÜR NOUR dagegen waren wir alle genauso überwältigt und beglückt wie Mohammed damals.

 


Wie eng halten Sie sich an die Tatsachen, was haben Sie ausgeschmückt?


In den Details ist EIN LIED FÜR NOUR pure Fiktion, trotzdem ist die Geschichte hundertprozentig wahr. Mohammed hatte eine Schwester, sie standen sich sehr nahe und haben zusammen gesungen. Allerdings hat sie nicht Gitarre gespielt, um ein Beispiel zu nennen. Und für Mohammeds Freund Omar gibt es kein reales Vorbild, er ist frei erfunden. Tatsächlich hat Mohammed mehrere Brüder und Schwestern. Aber ich beschränkte mich auf die eine – Nour. Das steigert einfach die Dramatik. EIN LIED FÜR NOUR beruht also absolut auf einer wahren Geschichte. Aber ja: Wir haben uns künstlerische Freiheiten genommen.

 

Foto: (c)

 

Info:

Hany Abu-Assad ist ein niederländischer-israelischer Filmregisseur, der in Nazarth, Israel einer arabischen Familie geboren wurde.

Abdruck aus dem Filmheft