Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 8. Dezember 2016, Teil 4

Kirsten Liese

Berlin(Weltexpresso) - Ramona wurde als Mädchen geboren, fühlt sich aber wie ein Junge. Nun ist er 16, nennt sich Ray, trägt das Haar ganz kurz, bindet sich die Brust ab und will mit einer Hormontherapie noch einen Schritt weiter gehen. - Um dann auf einer neuen Schule selbstbewusst als junger Mann aufzutreten.


Ray darf das jedoch nicht alleine entscheiden, beide Eltern müssen der Hormontherapie zur letztgültigen Geschlechtsumwandlung zustimmen. Und das könnte schwierig werden, hat doch der Vater die Familie vor Jahren im Streit verlassen.


Der Film „Alle Farben des Lebens“ schildert die Schwierigkeiten einer weitreichenden Entscheidung. Aber große Kämpfe müssen nicht ausgestanden werden, die britische Regisseurin Gaby Dellal verortet ihre Transgender-Geschichte weitgehend in einem liberalen, unkonventionellen Umfeld.
Ray wächst in einem Matriarchat auf. Großmutter Dolly und ihre Lebensgefährtin Frances leben offen lesbisch. Maggie (Naomi Watts), die alleinerziehende Mutter, gönnt sich wechselnde sexuelle Affären, kommt aber auch gut ohne eine feste Beziehung zurecht. Die Frauen wohnen zusammen in New York unter einem Dach.


Die Regisseurin hat sichtlich Freude an dieser Drei-Generationen-WG, wenngleich sich auch Toleranz und Freiheitsdrang zuweilen schwer miteinander vereinbaren lassen. Allen voran die dominante Großmutter (Susan Sarandon) spricht ihre Zweifel am Wunsch der minderjährigen Enkelin aus. Unüberwindbar erscheinen die Meinungsverschiedenheiten freilich nie, einen erfrischenden Humor haben sich die Amazonen bewahrt.


Wiewohl sich Mutter Maggie nicht restlos sicher ist, ob Ray seine Entscheidung für die geschlechtsangleichende Therapie eines Tages bereuen könnte, nimmt sie es auf sich, ihren Ex-Mann für die erforderliche Unterschrift aufzusuchen. Als Einziger stellt er sich in dieser Sache quer.


Leider verlagert sich der Film zusehends auf Maggies unbewältigte Vergangenheit mit ihrem Ex. Rays Kampf, seine alltäglichen Probleme mit öffentlichen Toiletten, intoleranten Jungs und dem Mädchen, in das er verliebt ist, deutet die Regisseurin nur an.


 „Alle Farben des Lebens“ ist nicht der erste Film über Transgender-Erfahrungen in der Jugend. Frühere Produktionen haben die Probleme und Emotionen ihrer Protagonisten schon einfühlsamer und vielschichtiger erforscht. Zum Beispiel die Französin Céline Sciamma 2011 in ihrem Film „Tomboy“, die Geschichte eines Mädchens, das wie Ray lieber ein Junge wäre, aber ungleich härter dafür kämpfen muss, von Gleichaltrigen in dieser Rolle akzeptiert zu werden. Den Empfindungen von kindlicher Verletzlichkeit, Neugier, Unsicherheit, Angst und Stolz gibt dieser Film viel Raum.


Mit einer solchen subtilen, leisen Studie kann „Alle Farben des Lebens“ nicht mithalten. Die jugendliche Hauptfigur wirkt zu schemenhaft, zu dick aufgetragen die simple Erkenntnis, dass sexuelle Vielfalt niemandem schadet. Anrührend wendet sich alles zum Guten. Sogar die Spannungen zwischen Ray und der neuen, jungen Familie seines Vaters lösen sich plötzlich komplikationslos auf.


Wenn sich am Ende hetero-, homo- und transsexuelle Familienmitglieder friedlich aussöhnen, vermittelt sich überdeutlich das Bemühen, dem erstarkten Rechtspopulismus in Amerika das Votum für eine bunte, weltoffene Gesellschaft entgegenzustellen. Dank trefflicher Hauptdarstellerinnen und Dialogwitz besitzt der Film gleichwohl Qualitäten. Die Frage, warum die Regisseurin ihren Protagonisten nicht mit einem wirklichen Transgender-Jungen besetzt hat, bleibt zwar offen. Aber Ellen Fanning als Ray überzeugt als androgyner, willensstarker, verletzbarer Charakter. Naomi Watts lotet die Ambivalenz ihrer Mutterrolle zwischen Verantwortungsgefühl und Verständnis sensibel aus. „Alle Farben des Leben“ ist mithin kein tiefgründiges-, aber doch vergnüglich-unterhaltsames Statement für sexuelle Selbstbestimmung.

 


Foto: Ramona/Ray ist Elle Fanning (c) tobis.de

Info:
Alle Farben des Lebens (USA 2015)
Originaltitel: Three Generations, später About Ray
Genre: Tragikomödie
Filmlänge: 93 Min.
Regie: Gaby Dellal
Drehbuch: Nikole Beckwith, Gaby Dellal
Darsteller: Elle Fanning, Naomi Watts, Susan Sarandon, Linda Emond, Tate Donovan, Sam Trammell u.a.
Verleih: Tobis Film GmbH
FSK: ab 12 Jahren
Kinostart: 08.12.2016