wm buhneAUFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY in Hamburg, Teil 2/2

Helmut Marrat

Weltexpresso (Hamburg) - Die Idee ist ja wirklich gut: Eine Netzestadt wird gegründet, weil man weder vor noch zurück kann; die Begründung im Text dafür ist allerdings schwach. Überhaupt ist außer der Grundidee nicht viel vorhanden. Das darf man nicht überlesen: Das Stück ist dürftig und wenig einfallsreich. Wären nicht die beiden Weillschen Rosinen und die glückliche Grundidee vorhanden, kein Mensch würde heute noch Notiz davon nehmen.

Also: Das Optische ist dürftig, - aber nicht etwa als Bebilderung der ja ebenfalls recht dürftigen Text-Vorlage von Brecht. - So kann es also auf keinen Fall gehen. Schon der Anfang ist fragwürdig: Da sieht man einen karikierten Donald Trump (*1946) auf ein "Trumpolin" genanntes Trampolin fallen. Tagespolitik und Kunst sind zweierlei. Bernhard Minetti (1905 - 1998) schreibt über die berühmte "Richard III." - Aufführung durch Jürgen Fehling (1885 – 1968) am Berliner Staatstheater: "In 'Richard III.' hat Fehling nicht darauf verzichtet, Gloster seinen Hinkefuß zu belassen. Jeder wusste, Goebbels hinkte; Fehling konnte das nach seinen Intentionen ins Bild der Bühne übertragen. Aber als konkreter Bezug wäre das künstlerisch kleinkariert und politisch tödlich gewesen." (Aus: Bernhard Minetti, Erinnerungen eines Schauspielers, hg. Von Günther Rühle, DVA 1985, S. 113.) - "Tödlich" ist diese (mehr als) Anspielung heute natürlich nicht. Aber "künstlerisch kleinkariert" zweifellos.

wm buhnevoll"Mahagonny", die Netzestadt: Eine Parallele zu Las Vegas, - zweifellos. Aber es ist nicht so, dass Brecht Las Vegas 'abgeschrieben' hätte, sondern, wenn überhaupt, dann umgekehrt: Der Beginn von Las Vegas fand zwar bereits 1903 durch die Versteigerung des zuvor parzellierten Landes durch Spekulanten und Investoren bereits statt; den richtigen Aufschwung aber nahm die Stadt erst, nachdem 1931, - also ein Jahr nach (!) der Uraufführung von "Mahagonny" -, das Glückspiel im US-Bundesstaat Nevada legalisiert worden war und in den 1940er Jahren die Mafia damit anfing, große Hotels mit angeschlossenen Spielcasinos zu bauen. --- Die Idee aber ist die gleiche: "Netzestadt"! --- Denn, wie es im Text so schön heißt, 'es ist leichter dem Mann das Gold wegzunehmen als dem Fluss'. - Charlie Chaplins "The Gold Rush", der von den Schwierigkeiten der Goldgewinnung erzählt, war 1925 erschienen.

Ansonsten ist Brecht leider nicht allzu viel eingefallen. Vier Holzarbeiter besuchen die neue Stadt. Einer von ihnen wird sich überfressen und daran ersticken. Der Hauptredner (-sänger) unter ihnen, Jim Mahoney, was ja wieder an "Mahagonny" erinnert, resümiert aber gegen Ende, dass alles schal war: Sein Hunger wurde nicht gestillt, ebensowenig sein Durst. --- Die Stadt "Mahagonny" muss aber natürlich etwas bieten, damit sich der Betrug, ihr versteckter, eigentlicher Zweck, nicht herumspricht. - Das aber gelingt nicht sehr gut. Die Gäste werden unzufrieden, drohen abzureisen. - "Sex, Drugs and Rock'n'Roll" ist die Lösung. - Daraus hätte man einiges machen können, ist das doch die Grundlage fast allen menschlichen Lebens.

Aber Bert Brecht ist dazu wirklich nicht besonders viel eingefallen: Nur die Bedrohung durch einen Typhoon, der aber am Ende einen glücklichen Umweg um die künstliche Stadt macht. (Und nur dieses, ein aus zwei Hälften übereinander montierte Bühnenbildfoto ist dem Bühnenbildner gelungen.) - Es sind also mehr Ahnungen, was möglich gewesen wäre, die überhaupt wirken.

Was auf die Textvorlage zutrifft, gilt in ähnlicher Weise auch für die Musik: Sie ist recht uneinheitlich, so als seien gleichzeitig mehrere verschiedene Ziele angestrebt gewesen: Oper, Oratorium, aber auch Opern- und Liederparodie. Es wird kein Zufall sein, dass Otto Klemperer (1885 - 1973), an dessen Kroll-Oper die Uraufführung zuerst stattfinden sollte, im Sommer 1929 von diesem Plan abwich. --- Aus Wikipedia zitiere ich: "Häufig werden Zitate aus der klassischen Musik (oft in ironischer Form) verwendet, so wird Tekla Bądarzewskas 'Gebet einer Jungfrau', bereits damals als „Kitsch“ angesehen, wörtlich zitiert und mit den Worten „Das ist die ewige Kunst!“ kommentiert. Außerdem werden unter anderem zitiert: Paul Linckes 'Schenk mir doch ein kleines bißchen Liebe' und das 'Lied vom Jungfernkranz' aus Carl Maria von Webers Oper 'Der Freischütz' in der Nummer 'Auf nach Mahagonny' (...), musikalische Formen wie Bachsche Fugen, Choralvorspiele und Passionsmusik (...), Populärmusik wie Schrammelmusik, Marschkapellenmusik, Shanty, Tarantella, Blues und der Tristan-Akkord."

Und hier liegt bereits ein großes Problem, wenn man dieses Stück heute aufführt: Denn viele der ironisierten Musikstücke sind uns nicht mehr geläufig. Abgesehen davon, dass Ironie, wie Fehling sagte, ohnehin eine Sache für Subalterne sei, bricht Ironie, auch die intelligenteste und gekonnteste, zusammen, wenn das Bezugsobjekt nicht (mehr) vorhanden ist. Und hier liegt auch die deutliche Grenze des Bezugs dieses Werkes auf seine Entstehungszeit. - Wenn sie also nicht recht mehr möglich ist, dann muss die Partitur anders behandelt werden, nämlich sachlich-ernst, un-ironisch, nur wirklich einfach vortragend konzertant; aber natürlich auch gekonnt. Dann braucht man nicht diese dürftigen Fotostrecken, sondern es genügt – wie bei anderen Opernaufführungen auch – der Übertext.

Darum wuchs die Aufführung am Ende auch über das Maß des Anfangs deutlich hinaus, weil hier lange Duett-Strecken zwischen der Hure Jenny und dem Holzfäller-Gast Jim Mahoney vorkommen. Vor allem fehlten dann auch weitgehend die Bildversuche der 'szenischen Gestaltung', sondern es wurden meist Text-Überschriften der Brechtschen Kapitel oder kurze Zitate auf die Leinwand geworfen; so dass man nicht so ganz unnötig abgelenkt vom Wesentlichen wurde.

Wenn man also zurückdenkt, bleibt ein musikalisches Wachsen gegen Ende des zweiten Teils bestehen; eine Stärke; ein Nachklang. - Und wenn man das Gebotene abklopft, - bleibt trotzdem dieser Eindruck bestehen; und insofern war es lohnend, diese Aufführung zu hören und auch bis zuende zu hören. - In der Pause herrschte darüber noch ein deutlicher Zweifel; und man konnte mehrere Besucher beobachten, die es vorzogen, die zweite Hälfte nicht mehr zu hören.

Der erste Teil des Abends war ein schwerer Energiefresser gewesen! Gustaf Gründgens (1899 – 1963) prägte seinen Schauspielern bei seiner Antrittsrede am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg ein: "Aber ich würde wünschen, dass die drei Stunden, in denen wir abends unseren Beruf ausüben, festliche Stunden sind, besondere Stunden für jeden von uns. Nur dann werden sie besondere Stunden für den Zuschauer sein. (...) Machen Sie in Ihrem Privatleben, was Sie wollen, aber bringen Sie mir den Alltag nicht auf die Bühne." --- Dieser Hinweis hätte den meisten Mitwirkenden des Abends auch gut getan!; gerade wegen des verführerisch-sensationell guten Wetters. Aber da wurde vielfach nur auf die Bühne gelatscht oder geschlendet, ohne Straffheit, ohne diese notwendige deutliche Trennung zwischen Bühnenraum und Publikum, ohne die eine große Aufführung nicht zustande kommen kann.

Die einzige Mitwirkende, die hier erfreulich anders auffiel, war die Darstellerin/Sängerin der "Jenny", Nadja Mchantaf! Aber ihr Kollege, der Tenor, genauer laut Programmheft: Heldentenor Michael König, der – das darf nicht unterschlagen werden! - gemeinsam mit ihr den wesentlichen letztlichen Erfolg des Abends herbeisang, machte optisch zuerst den Eindruck eines Packers oder Hafenarbeiters (und das nicht als Reminiszenz an die Hafenstadt Hamburg). - Es ließen sich noch weitere Beispiele nennen. Jeder hat sich auf seine Weise zwar bemüht, irgendwie angemessen zu erscheinen, aber es fehlte der einheitliche, der einende Geist eines wirklichen starken Ensembles. Daher wurde die erste Hälfte benötigt, um erst einmal zueinander zu finden, sich zu versammeln, zu finden, zu balancieren. Was Gründgens' Schauspieler schon beim ersten Auftritt mitbrachten, muss hier erst mühsam während der ersten 70 Minuten aufgebaut, aufgestaut werden. Daher kämpfte man während der ersten Hälfte so angestrengt gegen das Einschlafen an, hielt sich immer wieder nur mit Mühe und Selbstdisziplin über Wasser. Der legendäre Alfred-Kerr-Spruch "als ich um viertel vor zehn auf die Uhr sah, war es viertel nach acht!" fiel einem auch hier deutlich ein. - Die Müdigkeit stand einem bis zum Hals, nicht derzeit, zum Glück, das Wasser - ...

Das ist auch eine Sache des Dirigenten. Jeffrey Kahane (*1956), der von schräg hinten, - meiner Sitzposition -, an Hanns Eisler (1898 - 1962) erinnerte, aber nicht dessen Feuer und Temperament hat. Vielleicht war auch nur die Probenzeit zu kurz. Die Hamburger Symphoniker sind ein einfallsreiches, unternehmungsfreudiges und daher (zwangsläufig) auch fleißiges Orchester: Jetzt Kurt Weills "Mahagonny"-Oper, 4 Tage später schon wieder Filmmusik von Charlie Chaplin (1889 – 1977)! Das muss ja erst einmal einstudiert werden! Also: Jeffrey Kahane fehlte die große Übersicht über sein Orchester, die Sänger, den Chor. Vielleicht ist sein Blickfeld eher für Kammerorchester prädestiniert. Und so fehlte auch weitgehend die Transparenz, die das Werk an sich durchaus anbietet. Das Orchester schien ein bißchen links und rechts auseinanderzuklaffen, - und das war kein politischer Kommentar zu den Demonstrationen in Berlin ... -; - der Chor erreichte nicht die Kraft und Möglichkeit, als ein eigenständiges Instrument hervorzutreten, sondern blieb im Hintergrund. Das mag zum Teil an der mangelnden Trennung zwischen Alltag und Kunst liegen. Es ist aber auch, scheint mir, ein rein räumliches Problem oder Phänomen: Warum stellt man den Chor nicht auf ein gesondertes und deutlich erhöhtes Podium? So stand er nur auf den in der Musikhalle auf der Bühnen ohnehin vorhandenen flachen Stufen, damit nur wenig herausgehoben, zu wenig, um auch räumlich ein selbständiges Intrument zu werden.

Was bleibt, sind die beiden Hauptstimmen – Nadja Mchantaf (Sopran) an erster Stelle und Michael König (Tenor). Die anderen gaben sich redlich Mühe, aber ihre Partien waren vergleichsweise klein und auch viel weniger attraktiv. Die beiden Rosinen, um auf den Anfang zurückzukommen, fallen der Rolle der Hure Jenny zu, vor allem das lange, lange nachklingende "Oh moon of Alabama – we now must say Goodbye ..." --- Ein weitgehend interessanter, lohnender Abend; vor allem im zweiten Teil gegen das Ende hin!

Fotos:
© Wolfgang Mielke