wm Barbara Nussen vorlesendALEXANDER S. PUSCHKIN – "PIQUE-DAME" als "Vorlesung" im Rahmen der ausstellung des Bucerius Kunst Forums, Teil  2/2

Wolfgang Mielke

Hamburg (Weltexpresso) - Das nun folgende 2. Kapitel zeigt die Gräfin in der Gegenwart der Erzählung, also nun wirklich als Großmutter, die stundenlang ihre Toilette nach wie vor nach dem Rezept aus ihrer Jugend betreibt, ein Monstrum geworden ist, ein fast schon verwester Dinosaurier, - die sich für eine Abendgesellschaft hochpeppeln lässt und dabei ihr Mündel unnachsichtig hin und her scheucht, plagt und ausnutzt.

Überraschend kommt ihr Enkel, den wir vom Spieltisch bereits kennen, zu Besuch und fragt seine Großmutter, ob sie einverstanden sei, wenn er ihr einen seiner Kameraden vorstelle. Die Großmutter-Gräfin, hat nichts dagegen. - Während ihrer Abwesenheit fasst sich Lisawetta Iwanowna, das Mündel, ein Herz und fragt den Enkel, ob es sich vielleicht um einen Pionieroffizier handele?- Damit hat sie ein Geheimnis preisgegeben, das wir als Leser aber noch nicht kennen. Puschkin hat seine Erzählung also verschachtelt aufgebaut und dieses neue Geheimnis zwischengeschoben. Dieses muss natürlich zuerst geöffnet werden; aber natürlich kann es sein, dass die Lösung des zwischengeschobenen Geheimnisses die Eröffnung des großen Spielgeheimnisses erst ermöglichen wird ... Gerade in der raffinierten Verschachtelung von Handlungen besteht ja die Kunst der Dramatik und ebenso die auf Spannung zielende Erzählkunst.

Puschkin ist aber nicht so grausam, dass er den Leser (oder Hörer) allzu lange auf die Folter spannte. Wir erfahren noch im selben Kapitel, dass seit Tagen ein junger Pionieroffizier oft und ausdauernd vor dem Fenster der Lisawetta steht; und sie mach sich darüber natürlich Gedanken; sieht in ihm eine Möglichkeit zur Befreiung aus ihrer von Demütigungen alles andere als freien Willkürherrschaft der alten Gräfin. 

Dem 3. Kapitel stellt Puschkin nun folgenden Satz voran: "Vous m'écrivez, mon ange, des lettres de quatre pages plus vite que je ne puis les lire." (Also: "Du schreibst mir, mein Engel, vierseitige Briefe schneller, als ich sie überhaupt lesen kann!") - Mitteilungsbedürfnis also! Ein angestochenes Fass! Das meint das Mündel Lisawetta, auch Lisanka genannt. Es entspinnt sich also ein heimlicher Briefwechsel zwischen dem Pionieroffizier und Lisanka. Nicht lange braucht der Offizier zu warten, bis sie ihm eine Möglichkeit, sie heimlich zu treffen, mitteilt: Nach einem bevorstehenden Ball. Während des Balles, also während der Abwesenheit der Gräfin mit ihr soll er sich über einen bestimmten Weg ins Haus begeben und über eine versteckte Wendeltreppe in ihr Schlafgemach. So geschieht es. Jedenfalls, was den ersten Teil betrifft. Denn der Offizier ist kein anderer als der Deutsche Hermann, der das Kartengeheimnis der Gräfin erfahren möchte, nicht aber auf eine Liebschaft mit ihrem Mündel aus ist. Sie ist nur das Mittel zum Zweck; und sie funktioniert.

Die Gräfin kommt vom Ball zurück, auf dem sie höflich, aber doch sehr deutlich auch wie eine eigentlich schon abgestorbene Verwandte behandelt wurde. Sie macht ihre Toilette zur Nacht; der Soldat hat sich hinter einer Nische verborgen – und beobachtet ihre zunehmende Entpuppung; und wir als Leser (oder Hörer) sehen ihre zunehmende Wahrheit und daher Häßlichkeit durch die Augen des Soldaten. Was übrig bleibt, ist ein halbes Gerippe. Hier nun tritt der Pionieroffizier aus seinem Versteck, beteuert der Gräfin gegenüber, die überrascht natürlich und erschrocken ist, dass sie keine Angst zu haben brauche; und bittet sie, ihm ihr Kartengeheimnis zu verraten, da sie ja so alt sei und es ihr nichts mehr nützen könne. Die Antwort der Gräfin, nachdem sie sich wieder gefasst hatte: "Es war bloß ein Scherz!" Hermann gelangt also so nicht zum Ziel. Es hilft auch nicht, dass er vor ihr auf die Knie sinkt. Schließlich zückt er seine Pistole und fordert die Lösung. Aber auch jetzt hat er keinen Erfolg: Denn die Gräfin sackt vor Schreck tot in sich zusammen.

"Homme sans moeurs et sans religion!" ist das nächste Kapitel überschrieben.  Lisawetta sah, halb bangend in ihr Zimmer hinaufsteigend, dass der Offizier nicht da war. Aber nun kommt er in ihr Zimmer und erzählt ihr die ganze Geschichte. Sie war bereits indirekt auf dem Ball schon vorgewarnt worden, indem einer der Gäste, Tomskij, als er, auf seine Liebste wartend und sich so die Zeit vertreibend mit Lisawetta einige Worte gewechselt hatte, Hermanns Profil mit dem Napoleons verglich, - seit dessen Rußlandfeldzug dem Todfeind der Russen -, und seine Seele mit der des Mephistopheles. (Goethes "Faust I" war 1808 veröffentlicht worden.) 

Ihre Enttäuschung bleibt nicht aus, denn rasch erknent sie aus Hermanns Geständnis, dass es ihm nur um das Kartengeheimnis, nicht ansatzweise aber etwa um sie gegangen war. - Trotzdem verhilft sie ihm dazu, das Haus ungesehen verlassen zu können.

Die nächste Kapitelüberschrift ist Emanuel v. Swedenborg (1688 – 1772), dem einflußreichen Wissenschaftler, Mystiker und Theosophen, zugeschrieben; sie lautet: "In dieser Nacht erschien mir die verstorbene Baronin W ... Sie war ganz in Weiß gekleidet und sagte zu mir: 'Guten Tag, Herr Rat.'"

Zuvor aber wohnen wir der pompösen Trauerfeier für die Gräfin bei. Die Verwandten waren über die Todesnachricht nicht verwundert, wohl auch nicht traurig darüber; ein Erbe war sicherlich lockender; so kommt ein Gedanke an (halben) Mord nicht auf. - Hermann ist der Letzte, der sich an ihren Sarg begibt. Er wirft sich vor ihm auf den kalten, mit Tannenzweigen bedeckten Boden und steigt dann zu ihrem offenen Sarg hinauf. Oben angekommen ist es ihm, als würde die Gräfin ihm höhnisch zuzwinkern. Er erschrickt, taumelt zurück, stürzt und schlägt lang auf den Boden hin. - Lisawetta, die ja um das Geheimnis des Pionieroffiers weiß, wird plötzlich ohnmächtig und muss aus der Kirche getragen werden. Die Trauerfeier ist an dieser Stelle empfindlich gestört. Im Publikum gehen stimmen von Ohr zu Ohr, der Offizier sein ein bisher geheim gehaltener unehelicher Sohn der Gräfin ...

Grübelnd und hadernd mit sich sitzt Hermann anschließend in seinem Zimmer. Als er schließlich einschläft, erscheint ihm die tote Gräfin im Schlaf. Nun erst erfährt er ihr Geheimnis. Die drei Gewinnkarten heißen: Drei, Sieben und As. Und zwar in dieser Reihenfolge. Hermann darf nur an drei aufeinander folgenden Tagen spielen und anschließend nie mehr eine Karte anrühren; ähnliche Bedingungen also, wie sie sie jenem zuvor genannten jungen Mann einst gestellt hatte.

Was nun kommt, ist klar: Hermann sucht einen vornehmen privaten Spielsalon auf und setzt auf seine erste Gewinnkarte sein ganzes väterliches Erbe, 47.000 Rubel. Der Spielmeister ist irritiert, gleichwohl selbstbeherrscht und sagt: "Mehr als 275 Rubel hat bisher noch niemand hier auf eine Karte gesetzt." - Aber Hermann besteht auf seinem Einsatz - und gewinnt mit der "Drei". - Die Bank muss ihm 94.000 Rubel aushändigen, eine ganz unerhört große Summe. 

Durch Hermanns Sturz am Sarge der Gräfin hat Puschkin das Ende seiner Erzählung in versteckter Form schon vorweg genommen. Die nächtliche Erscheinung und die Preisgabe des Geheimnisses und nun dieser Gewinn lassen uns diesen Sturz wieder vergessen. Puschkin nutzt hierbei auch ganz geschickt unsere eigene Geld-Gier, die vor allem eine Gier um Freiheit und Unabhängigkeit ist! Wir wünschen uns also, dass der Pionieroffizier gewinnt! Dass das Geheimnis funktioniert – und letztlich, dass wir selbst vielleicht auch noch von ihm profitieren können!

Am zweiten Abend kommt Hermann wieder. Sein ungewöhnlicher Gewinn hat sich rasch herumgesprochen. Daher macht man ihm am Spieltisch sogleich Platz. Auch an diesem Abend gewinnt Hermann: Mit der "Sieben". - Sein Gewinn ist auf 188.000 Rubel gestiegen. - Ob die Bank kurz vor ihrer Sprengung steht, erfahren wir nicht; nur von der mißgelaunt-gezügelten Selbstbeherrschung ihres Spielleiters.

Der dritte Abend steigert noch die Spannung. Schon das Motto dieses Kapitels hat auf zunehmende Spannung gedeutet; denn es lautet. "'Attendez!' / 'Wie können Sie es wagen, zu mir attendez zu sagen?' / 'Verzeihen Sie, Exzellenz, ich sagte attendez.'" --- Alle Anwesenden in dem Palais des Bankhalters umdrängen nun Hermann voller Spannung und Neugierde. Puschkin vergleicht dieses neuerliche Spiel zwischen Hermann und dem Bankhalter mit einem Duell (sein eigenes Ende auf diese Weise unbewußt vorwegnehmend.) - Die Karten werden ausgegeben und – aufgedeckt: "Rechts fiel eine Dame, links ein As", heißt es im Text. - "'Das As gewinnt!', sagte Hermann und deckte seine Karte auf. - 'Ihre Dame ist geschlagen', antwortete Tschekalinskij verbindlich." --- Und er streicht Hermanns gesamtes Geld ein.

Damit ist Hermann bankrott und spielunfähig geworden. Schlimmer aber: Er begreift seinen Fehler nicht! Denn es war ja auf gewisse Weise gar nicht sein Fehler, sondern ein neuerlicher Schlag, ein neuerliches Hinschlagen durch seine Begegnung mit dieser alt-ominösen, toten Gräfin. Diese Wendung des Spiels wie der Erzählung ist nur erklärbar dadurch, dass die Pique Dame ins Spiel hineingefunkt hat! - Natürlich nicht die Spielkarte Pique Dame, sondern die durch Schreck umgekommene Gräfin mittels der Spielkarte. Es scheint Hermann daher in diesem kurzen Moment auch, als habe ihm die Pique Dame schadenfroh zugelächelt! 

"'Die Alte!' schrie er plötzlich außer sich", heißt es weiter im Text. --- Danach taumelt Hermann langsam vom Tisch weg; und das Spiel geht weiter, als sei überhaupt nichts Besonderes vorgefallen. Hermann aber verliert über diesen Schlag seinen Verstand. Im Irrenhaus murmelt er tagaus - tagein vor sich her: "'Drei, Sieben, As! Drei, Sieben, Dame!'" 

Es ist möglich, dass sich Puschkin hier durch Heinrich v. Kleists Erzählung "Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik", die vom 15. - 17.11.1810 in den "Berliner Abendblättern" zuerst veröffentlicht worden war, hat inspirieren lassen. - Schon Puschkins Erzählung "Der Schuss" (1830) weist Parallelen zu Kleists Erzählung "Der Zweikampf" (1811) auf. - In der "Heiligen Cäcilie" machen sich vier Brüder in Aachen daran, während der Zeit des Bildersturms, 1566, das Kloster der Heiligen Cäcilie mit einem zahlreichen Anhang von Radaubrüdern während der Fronleichnams-Prozession (= 60. Tag nach Ostersonntag = zwischen 21.5. und 24.6.) kurz und klein zu schlagen, werden aber durch die Heilige Cäcilie, die, als ein Wunder, selbst den Kirchenchor und das Orchester dirigiert, in ihrem eigenen religiösen Kern getroffen, so dass sie zur Gewalt nicht nur nicht mehr fähig sind, sondern fortan beten und dienen und jede Mitternacht das "Excelis Deo" anstimmen, das, da sie keine sehr wohlklingenden Stimmen haben, schaurig klingt. Sie werden ins Irrenhaus eingewiesen, wo sie bei wenig Kost und Trank tagaus - tagein ruhig betend um einen Tisch sitzen und nur während der Geisterstunde (also zwischen null und ein Uhr) das "Excelsis Deo" absingen.

So war diese Veranstaltung des Bucerius Kunst Forum mit Puschkins "Pique-Dame", von Barbara Nüsse (*1943) nicht zuletzt gut vorgelesen, höchst lehrreich. ... und Puschkins Erzählungen wurden diesmal ganz durchgelesen ...

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Foto:
Barbara Nüsse


Info:
Zitierte Ausgabe von Puschkin, siehe Bild