Bildschirmfoto 2018 06 17 um 08.56.54Gespräch über Kunst und Leben  mit den Merzbachers, die dem Kunsthaus Zürich Teile ihrer Sammlung leihen, Teil 1/2

Yves Kugelmann

Zürich (Weltexpresso) - Gabrielle und Werner Merzbacher vermachen wesentliche Teile ihrer Kunstsammlung als Leihgabe dem neuen Kunsthaus Zürich und feiern in diesen Monaten beide ihren 90. Geburtstag – ein Gespräch über ihr Leben und Werk.


tachles: Sie haben beide länger in Amerika gelebt. Was bedeuten Ihnen die USA heute?

Gabrielle Merzbacher: In den USA habe ich stets die Schweiz verteidigt. Hier ist es umgekehrt: Ich verteidige Amerika, und eine Zeitlang habe ich mich mehr als Amerikanerin denn als Schweizerin gefühlt – ich war ja schon als Kind dorthin gekommen. Das waren für mich wichtige Jahre.

Werner Merzbacher: Amerika ist für mich immer noch der Ort, wo ich mich wohlfühlte und vor allem professionell entwickeln konnte. Ich denke mit Freude an die 15 Jahre, die ich in Amerika verbrachte. Mein wirtschaftlicher Blick hat sich in dem Sinn verändert, dass ich heute China wirtschaftlich mit Amerika gleichstelle und die grösste Zukunft dort sehe. Von Europa erwarte ich wenig.


Sie beide haben sich vor rund 70 Jahren in den USA kennengelernt.

Gabrielle Merzbacher: Wir hätten uns auch in der Schweiz kennengelernt. Werner kam nach meiner Abreise nach Amerika ins gleiche Schulhaus, wo wir uns als Sekundarschüler also sicher getroffen hätten.

Werner Merzbacher: Ich emigrierte 1950 in die USA, nachdem ich infolge der Krankheit meines Bruders nicht Schweizer werden konnte. Das Deutsche Bürgerrecht wollte ich nach dem Schicksal meiner Eltern nicht mehr annehmen. In den USA wurde ich zu Beginn des Koreakrieges in die Armee eingezogen, da ich Amerikaner werden wollte. Mit Glück kam ich in ein Legal Office in der Nähe von Washington und wurde dann mit meinem Chef nach Fairbanks, Alaska, versetzt. Gaby wollte mitkommen, und unverheiratet wäre dies damals undenkbar gewesen. So heirateten wir und verbrachten dann zusammen etwa zehn Monate in Fairbanks.


Ihr Grossvater, Frau Merzbacher, und Ihr Vater, Herr Merzbacher, waren beide mehr oder weniger rebellische Juden. Beide haben aktiv gegen Antisemitismus aufbegehrt, standen in den anarchistischen und sozialistischen Traditionen.

Gabrielle Merzbacher: Meine Mutter war in Norddeutschland, mein Vater in Belgien geboren worden. Mein Grossvater galt in Belgien im Ersten Weltkrieg als «sale boche» («dreckiger Deutscher»); 1916 wanderte er mit meinem damals 15-jährigen Vater in die Schweiz aus. Meine Eltern kannten sich aber schon als Kinder in Deutschland. Mein Vater wollte eigentlich nicht in die USA auswandern, aber da die ganze Familie weggehen wollte, gingen wir 1941 eben mit. Meine Grosseltern erhielten zuerst kein Visum und mussten via Südamerika einreisen, und sobald der Krieg zu Ende war, drängte mein Onkel darauf, wieder zurückzugehen. Jener Teil der Familie verliess die USA also, während meine Eltern noch blieben.

Werner Merzbacher: Auch meine Eltern waren nicht religiös, aber doch aufrechte selbstbewusste Juden. Aus den Briefen, die meine Eltern dann meinem Bruder aus den Konzentrationslagern sandten, spürte ich, dass das Jüdischsein dort zunehmend an Wichtigkeit gewann. Die Eltern von Gaby kamen nach unserer Rückkehr 1965 in die Schweiz zurück.


Was war Ihnen in den USA über Europa im Zweiten Weltkrieg bekannt?

Gabrielle Merzbacher: Mein Vater war politisch sehr interessiert; so wusste ich ziemlich viel, auch über den Verlauf der Kampfhandlungen und schon recht früh über die «Kristallnacht» und die Konzentrationslager, wenn auch nicht über die «Endlösung», den Holocaust. Davon wussten wir nichts.


Hat Ihre Familie bei der Betreuung von europäisch-jüdischen Flüchtlingen geholfen?

Gabrielle Merzbacher: Ja, wir versuchten im Rahmen einer Organisation beispielsweise Stellen für sie zu finden; meine Mutter leistete Freiwilligendienst, und ich bekam dort eine Arbeitsstelle. Damals lebten wir in Forest Hills, New York.

Werner Merzbacher: Ich erhielt ein Stipendium, um die Mittelschule in Zürich zu besuchen, und habe natürlich die Entwicklung des Zweiten Weltkrieges dauernd mitverfolgt. Ich war mittlerweile nach Ausbruch des Krieges von der in Witikon wohnhaften nicht jüdischen Gemeindeschwester und ihrer Schwester aufgenommen worden. Ich hatte wenig Verbindung zur jüdischen Gemeinde, die sich auch nicht gross um mich kümmerte. Wohl, weil sie mit sich selbst beschäftigt war in Anbetracht der Bedrohung durch Deutschland. Als sich meine Eltern nach der «Kristallnacht» entschlossen hatten, mich mit einem Kindertransport in die Schweiz zu schicken, wurde ich nicht wie viele der Kinder nach Heiden ins Kinderheim geschickt, sondern eben von einem christlichen Professor aus Sympathie zu meinem Vater aufgenommen. Ich denke, dass meine Eltern die Jüdischkeit eben nicht speziell erwähnt hatten.


Wie haben Sie von der Deportation Ihrer Eltern erfahren?

Werner Merzbacher: Zum Zeitpunkt der Deportation meiner Eltern nach Gurs war ich elf Jahre alt. Meine Eltern wollten mich offensichtlich nicht belasten und schrieben meistens meinem vier Jahre älteren Bruder. Die Nazis liessen damals noch Personen frei, wenn sie spezielle Dokumente beschaffen konnten. Offensichtlich gelang dies meinem Bruder nicht, und ich denke, dass er an der Unfähigkeit, meinen Eltern zu helfen, zugrunde gegangen ist. Die Briefe meiner Eltern habe ich erst gesehen, als mein Bruder starb.


Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie sich 1949 zum ersten Mal trafen?

Gabrielle Merzbacher: Sicher! Ich war mit einer Freundin zusammen, und Werner fand sie wohl netter und ging mit ihr aus. Aber da sein Englisch so schlecht war wie ihr Deutsch, konnten sie sich nicht unterhalten. Erst ungefähr neun Monate später meldete er sich dann telefonisch bei mir.


Haben Sie damals, aufgrund der Biografie, einen gebrochenen jungen Mann getroffen?

Gabrielle Merzbacher: Nein. Er war einfach sehr lieb, hatte so eine Güte an sich.


Eigentlich wollten Sie Filmregisseur werden. Sie arbeiteten während und nach dem Krieg im Schauspielhaus Zürich. Schliesslich wurden Sie Pelzhändler mit Passion für die Kunst.

Werner Merzbacher: Ja, während der Kriegsjahre verdiente ich neben der Schule mein Taschengeld als Statist am Zürcher Schauspielhaus. Es war wohl die eindrücklichste Zeit dieser Institution, da so viele Schauspieler damals aus Deutschland flohen und hier arbeiteten. Ich habe mich dann auch sehr für Film interessiert und wollte eigentlich Filmregisseur werden. Nach meiner Ankunft in New York hätte ich dann aber nach Hollywood ziehen müssen, denn die ganze Filmindustrie war dort situiert. Ich bin eben dann in New York steckengeblieben, da ich doch mein Leben verdienen und die Schulden für die Überfahrt nach USA zurückzahlen wollte. Während den Zürcher Jahren hatte ich mich immer mehr für Kunst und Kultur interessiert. Nachdem ich die kleine Sammlung des Grossvaters von Gaby in Ascona gesehen hatte, kam in mir immer stärker der Wunsch auf, selbst Bilder zu sammeln, und das wurde dann zu einer Passion. Ich wurde mir auch immer mehr über meine Liebe für spezielle Perioden bewusst und habe dann, als es finanziell möglich war, mit Leidenschaft gesammelt.


Wie sind Sie nach Ihrer Armeezeit in den USA in die Pelzbranche eingestiegen?

Werner Merzbacher: Es war sehr schwer, ich war ein unbeschriebenes Blatt in einer wirtschaftlich für die Branche schwierigen Zeit. Es gab damals drei jüdische Firmen, die im Häutehandel tätig waren, und ich bekam bei einer eine Stelle. Das war Mitte der Fünfzigerjahre. Ich konnte einem Pelzhändler ein sehr günstiges Geschäft ermöglichen und dank meiner Devisen-Kenntnisse war er von mir so begeistert und offerierte mir, bei ihm in den Pelzhandel einzusteigen. Ich war schnell erfolgreich, und es wurde mir dann offeriert, nach Zürich ins Familiengeschäft zu kommen. Ich blieb aber weitere fünf Jahre in den USA, weil mir in der Schweiz die amerikanische Umtriebigkeit fehlte. Ende 1964 kehrten wir dann aber zurück, zusammen mit unseren drei Kindern.

Gabrielle Merzbacher: Er reiste damals sehr viel, und der Weg von unserem Haus ins Geschäft nach New York war lang, also kam er immer erst spät nach Hause, hatte nichts von den Kindern, und ich sah ihn den ganzen Tag nicht.


Daran hat sich wohl auch in der Schweiz nicht viel geändert.

Werner Merzbacher: Ich kam mitten in eine wunderbare Zeit, während der sich Europa kräftig entwickelte. Die nächsten Jahre brachten für mich sehr viele Reisen, und ich war wohl fünf Monate jährlich unterwegs.

Gabrielle Merzbacher: Und ich fühlte mich ziemlich alleine – auch mangels sozialer Kontakte, die hier nicht gleich entstehen wie in den USA.


Sie haben immer viel Zeit in Ascona verbracht. Hat das mit Bernhard Mayer zu tun?

Werner Merzbacher: Nach unserer Heirat lernte ich Ascona kennen, wo Gabys Grossvater 1906 Land erworben hatte. Es hat eine wunderschöne Lage, und um die Familie enger aneinander zu schmieden, beschloss ich viel später, dort eine Wohngelegenheit für unsere Kinder zu schaffen.

Gabrielle Merzbacher: Meine Grosseltern wohnten hier immer von Mai bis Oktober. Auch meine Eltern taten dann das Gleiche und lebten hier während der warmen Saison. Im Winter waren sie in Zürich.


Wer brachte die Künstler in dieses Haus?

Gabrielle Merzbacher: Mein Grossvater war mit der Monte-Verità-Bewegung in Verbindung und förderte die Künste – nebst Leuten, die politisch in seinem Sinn aktiv waren. Er stellte ein Haus in Herrliberg für linke, in der Gesellschaft verpönte Intellektuelle zur Verfügung, und für nicht vermögende Künstler baute er in Ascona das Haus Bellaria.


Hätten Sie sich, ja selbst einmal Flüchtlinge, vorstellen können, dass es heute in Europa wieder Flüchtlingssituationen und potenzielle Kriegsdrohungen geben könnte?

Gabrielle Merzbacher: Nein, nein.

Werner Merzbacher: Nein, und ich habe das ungute Gefühl des wiederaufkommenden Antisemitismus. Wenn unsere Kinder mehr israelorientiert wären, hätten wir wohl dort eine Bleibe erschaffen.


Sie waren lange Zeit staatenlos.

Werner Merzbacher: Ja. Das war für mich das grosse Problem in meiner Jugend. Wie erwähnt, konnte ich wegen der Krankheit meines Bruders nicht Schweizer werden. Deutscher wollte ich nach dem Schicksal meiner Eltern nicht mehr sein. Deshalb wanderte ich 1949 nach Amerika aus, nachdem ich wusste, dass man dort nach fünf Jahren eingebürgert werden könnte.


Was bedeutet es Ihnen heute, einen Pass zu haben?

Werner Merzbacher: Zunächst war es für mich wichtig, in den USA einen Pass zu erhalten, um eine Heimat zu haben und wieder unkompliziert reisen zu können, auch wenn ich dafür in die Armee musste. Zu jener Zeit war die Schweiz eben noch nicht bereit, unbeschränkt Emigranten aufzunehmen.


Und der Schweizer Pass? Sie betonen ja immer wieder, wie dankbar Sie der Schweiz seien.

Werner Merzbacher: Ja, ich bin dankbar dafür, dass ich jetzt hier bin und damals aufgenommen und nicht mit meinen Eltern deportiert worden bin. Ich wurde von Menschen aufgenommen aus Herzlichkeit, und dass ich dann nicht eingebürgert wurde, hat das Bewusstsein nicht übertüncht, dass ich heute hier bin, weil auch nicht jüdische Schweizer an meinem Schicksal teilgenommen haben.


Die Öffentlichkeit kennt Sie beide vor allem im Kontext Ihrer Kunstsammlung. Der Ursprung Ihrer Sammlung stammt von Bernhard Mayer.

Werner Merzbacher: Ja. Seine kleine, aber hochstehende Sammlung wurde zwischen dem Vater und der Tante meiner Frau aufgeteilt, und obwohl ich ihn eben nie kennengelernt habe, war und bin ich von der Qualität der Sammlung tief beeindruckt

Gabrielle Merzbacher: Als wir nach Amerika gingen, hat mein Grossvater einen wertvollen Teil seiner Sammlung für anscheinend wenig Geld verkauft.


Gibt es einen Tag X, an dem Sie zum Kunstsammler wurden?

Werner Merzbacher: So war es nicht. Ich war schon als junger, mittelloser Mann durch die Tätigkeit am Schauspielhaus an Kunst interessiert. Als wir heirateten, habe ich, politisch und durch mein bis dato schwieriges Leben motiviert, begonnen, entsprechende Kunst auszusuchen. Später, in Amerika, sind wir in eine Stadt in Mexiko gereist, in der viele Künstler­ leben, und haben dort von einem Maler sozialistisch-kritische Bilder gekauft. Ich war ja in meiner Jugend schon irgendwie links angehaucht – wohl wie alle.

Gabrielle Merzbacher: Und ich auch. Wir schwärmten im Krieg für die Russen und ihre Armee.

Werner Merzbacher: In den 1950er-Jahren sahen wir im Museum of Modern Art eine Ausstellung über den Fauvismus. Mein Leben verlief ja dann auch schon positiver, und diese farbenprächtige Kunst sprach mich an. Als ich die Sammlung Bernhard Mayers sah, wünschte ich mir, dass ich für mich selbst einmal so etwas zusammenstellen könne, und es entstand eine Passion. Um diese zu finanzieren, begann ich eigens mit den Finanztransaktionen, denn aus dem Pelzhandel wäre dies nicht möglich gewesen.


Die Passion begann mit dem Impressionismus, ging über zum Fauvismus und Expressionismus, und heute besitzen Sie eine der grossen, bedeutenden Sammlungen in Europa. Oder der Welt?

Werner Merzbacher: Ich bilde mir ein, dass ich einen sehr bewussten Geschmack habe, und dieser kommt in der Sammlung zum Ausdruck.


Wie viele Diskussionen über Bilderkäufe haben Sie am Küchentisch geführt?

Gabrielle Merzbacher: Am Anfang habe ich mit Freude mitgemacht, aber dann ging es immer weiter, und ich dachte: «Genug! Wir haben keine Wände mehr ...» Und es ging trotzdem immer weiter.

Werner Merzbacher: Ich habe die meisten Bilder in Auktionen übers Telefon gekauft, viele in New York. Meiner Frau sagte ich jeweils: «Ich schlafe heute oben.» Sie hat mich danach nicht gefragt, ob ich etwas gekauft hätte – sie wusste es wahrscheinlich einfach.

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Foto:
Gabrielle und Werner Merzbacher um das Jahr 1952 in den USA © tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 15. Juni 2018