Über das „Europäische in der Romantik“ sprach der Literaturwissenschaftler Rüdiger Görner im Frankfurter Goethehaus , Teil 2/2
Heinz Markert
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - In Wordsworths ‚Prelude‘ (s.a. Lyrical Ballads, gemeinsam mit Coleridge) werden immer wieder Anläufe unternommen. Es wird gegen das Feste und Beharrende rebelliert. Ist das wohl eine Ersatzhandlung für die nichtstattgefundene Revolution?
War die französische Romantik zunächst reaktionär (unter Einschluß der Apotheose von Thron und Altar) und wechselte dann zur Revolution, so war die deutsche Romantik erst revolutionär, kippte aber dann ins Reaktionäre. Entsprechungen zu Frankreich gibt es daher weniger als zu England. Aber die Romantik war stets immer doch die Rebellion einer starken und ihrer selbst gewissen Imagination. Sie war davon getrieben, alles was dem ancien régime heilig war, infrage zu stellen und so trieb es sie in die Übersteigerungen, unter Einschluss des je abgelegensten Eigentümlichen. Auch konnte damit dem Nationalismus und der Metaphysik des Volksgeists gehuldigt werden. Die Romantiker sinnten auf Erlösung der Natur und der sozialen Welt auf eine dritte, versöhnte Natur hin. Das klappte nicht immer.
Bei aller Selbstermächtigung blieb aber der Selbstzweifel immer akut, kulminierend in der Frage: Ja, ist denn überhaupt etwas entstanden; etwas, das vom ersten Erzeuger stammt, von ihm abgeleitet und daher unzerstörbar ist. Aber eben das kommt für die Romantik nun nicht in Frage. Percy Bysshe Shelley war Verfechter des Atheismus. Das, was augenscheinlich in Funktion ist und sich gar nicht bezweifeln lässt, ist das Ich, infolge des Ich-denke des Descartes. Die Selbstmanifestierung bindet sich am ausdrücklichsten an eine Romantische Dramenkonzeption. Denn das Sein des Subjekts ist Auftritt, um die Welt zu überflügeln. In Deutschland steht hierfür August Wilhelm Schlegel, in Frankreich Victor Hugo, bei allen Unterschieden. Das englische Theater ist massiv durch die Fahrenden Schauspieltruppen gekennzeichnet, da es sich auf dem Boden der Begierde nach Amüsement des Publikums der Londoner Bankside entwickelte.
'Mut zum Ich'
Die philosophische Fundierung für dieses Konzept hat Johann Gottlieb Fichte und alle, die ihm eifrig folgten, in Eisen gegossen. Fichte, der supraideelle Denker, zentriert die Person im Selbst, im Ich, erhebt ein Konstrukt des Menschen zum Absolutum. Die Crux des Deutschen Idealismus ist der Drang zu Letztbegründungen. An diesem wahnhaften Zug krankten alle idealistischen Entwürfe. Kant macht die Ausnahme durch seinen Kritizismus. Sodann aber mangelt es dem Idealismus an einem Korrektiv. Adorno handelte im 54 Aphorismus der Minima Moralia unter dem Titel des Dramas ‚Die Räuber‘ (des Kantianers Schiller - der er war) von der Verkettung des deutschen Geistes mit der deutschen Barbarei. Fichtes Wissenschaftslehre war ein hochgelehrter Extremismus.
Die Romantik hat – im Widerspruch zum Einspruch eines Goethe – weidlich an den Allmachtsphantasien ihrer Zeit mitgewirkt, an den Überschreitungen, die mit Selbst-Transzendierung und Ich-Versessenheit nur knapp bezeichnet sind. Mit dem post-modernen ‚Das Ich ist nicht vorhanden‘, begab man sich damals noch nicht. Hiergegen steht die Vereinigungssehnsucht, die im Terminus der Organizität beschlossen liegt, sowie das neuartige Konzept der ihrer selbst bewussten Psyche, woraus trivial das Ego wurde. Im romantischen Geist leitete sich die europäische Bewusstseinsbildung noch ungestüm aus dem Geist der Poesie ab. In der Musik entstanden die romantischen Nocturnes, die trivialisiert Eingang in die populäre Musik gefunden haben. Flora, Fauna, Magnetismus und Chymie – das klingt für heutige Ohren im Klimawandel nicht gar zu fremdartig oder abwegig. Denn die Natur ist noch lange nicht zu Ende gedacht, geschweige denn erforscht.
Alois Stockmann bezog den Terminus ‚natura naturans‘ (übrigens auch bei Ernst Bloch extensiv ausgeführt) auf den Drang der Romantik zur Selbstvervielfältigung der Person in alle ihre Richtungen, bis zum unberechenbaren Auflösen der Gegensätze. Das Ich wird wie durch ein Vervielfältigungsglas x-mal gebrochen und gleichsam überwunden, der Organizität ist hiermit bestens geopfert. Zur Gedenkfeier des verstorbenen Brian Jones rezitierte Mick Jagger eine Stelle aus ‚Adonais‘ von Shelley: „He is not dead, he doth not sleep. He has awakened from the dream of life...“, womit Shelley und Byron Thema wären.
An dieser Stelle nun ist ein Zitat aus dem Band ‚Sozialgeschichte der Kunst und Literatur‘ von Arnold Hauser, dem Mann mit dem großen Überblick, angebracht, die auf den Byronschen Helden Bezug nimmt: „Der Byronsche Held, dieser späte Nachfolger des fahrenden Ritters, der ebenso beliebt und fast ebenso zählebig ist wie der Held der Ritterromane, beherrscht die Literatur des ganzen 19. Jahrhunderts und treibt noch in den Kriminal- und Gangsterfilmen unserer Tage sein Unwesen. Gewisse Züge des Typus sind uralt, das heißt wenigstens so alt wie der pikareske Roman. Denn dieser kennt schon den Ausgestoßenen, der der Gesellschaft den Krieg erklärt und ein unerschrockener Feind der Großen und Mächtigen, aber ein Freund und Wohltäter der Schwachen und Armen ist; der nach außen rau und ungemütlich erscheint, sich aber schließlich als treuherzig und großmütig erweist, den, mit einem Wort, nur die Gesellschaft dazu gemacht hat, was er ist. Auf dem Wege von Lazarillo di Tormes zu Humphrey Bogart bezeichnet der Byronsche Held nur eine Zwischenstation“. Wüsste die Weltgesellschaft, dass sie von der Romantik abhängt, wüsste sie sich durch einen besseren Auftritt ihrer selbst repräsentiert und weniger durch so mächtige Schauergestalten und Ausreißer der Gegenwart.
Die Romantik war wesentlich europäisch und transkulturell
Novalis schrieb, die Romantik habe sich am Orient vergriffen, die Welt bediene sich falscher Gegensätze. Welch anderes Werk als der West-östliche Divan könnte dieser Tatsache mehr entgegenstehen, indem es die Gegenposition einnimmt? – Dies Werk sei Anti-Schlegel, sprach Rüdiger Görner. Goethe verstand sich als Bote von Nation zu Nation. Die stärkste Vergiftung des 19. Jahrhunderts war die durch den aus der Ich-Schwäche aufsteigenden Nationalismus unterschiedlicher Variationen.
Kontinentaleuropa gegen England war wie Pluralismus gegen nur eine Schule
England hatte nicht die vielen romantischen Schulen. Etwas wie eine Heidelberger Schule gab es in England nicht. Österreich wiederum kann nicht so sehr vom Dichterischen herkommend gesehen werden, es war durch die musikalische Salon-Kultur von Graz/Wien gleichsam geadelt. Grillparzer pflegte einen spätromantischen Duktus. Österreich war mit Franz Schubert - der Sargträger von Beethoven war - und seinem Hotspot fast eine musikalische Überkultur. ‚Die Winterreise‘ war ein vorzeitiger Abgesang auf Romantik, sie lässt jegliche Sentimentalität vermissen, sie ist ein ernüchterndes Infragestellen der allzu menschlichen Gewissheiten. Erschütternd setzt sie einen eigenen Kontrapunkt gegen die Weinseligkeit, wie Görner ausführte. Was Österreich angeht, so wäre durchaus von einer musikalischen Lyrik zu sprechen. Nikolaus Lenau ist das Bindeglied Österreich/Deutschland.
Keats und die Auflösung des Ich
Dem Publikum war die Auflösung des Ich ein Grund, der zum Anlass für Räsonnement wurde. Aufgrund der angenommenen Ich-Dissoziierung wird die Reflexion über das Material zum Ausgangspunkt dafür, dass „das Material mit ihm umgeht“; worauf das Eingeständnis folgt, dass das schaffende Ich das Material im Akt des Formens rezeptiv aufnimmt. Der Impuls, wenn auch nicht die Aufnahmebereitschaft, kommt von außen. Keats steht insoweit gegen Shelley und Byron wie auch gegen Schlegel, die ein dezidiert schöpferisches Ich voraussetzten (sofern es nicht bloßer Wille war). Auch Coleridge sagt: Ich setze zusammen, muss plagiieren (sogar von anderen). Es gibt so etwas wie höheres Abschreiben (das modifizierende). Das gleichzeitige wie rückwärtige Abkupfern im Verhältnis Shakespeare (1564-1616), August Wilhelm Schlegel (1767-1845) und Coleridge (1772-1834), ist es denn so abwegig? Es dürfte in den Künstler*innen-Republiken mehr oder weniger im Gebrauch sein.
Von der Freundschaft und Feindschaft zu Napoleon
Leider hat sich die Mainzer Republik nicht in ganz Deutschland durchgesetzt. Die Fasenacht hätte sich aufs ganze Jahr ausgewirkt. Davon zeugen immer wieder die Motivwagen von jenseits des Rheins, z.B. einer der diesjährigen in Düsseldorf (bezogen auf Höcke). Denken wir uns einen späteren Carl Schmitt ante portas, so dürfte die Politisierung der Romantik in Deutschland hochgefährlich gewesen sein, sie hat auch Grundsteine gelegt, für die jetzt Gedenksteine eingesenkt werden müssen. Es wurde damals bereits geistig aufgerüstet, mit Militarismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Sympathie für Hinrichtungen. Die Entwicklung von Bismarck zu Hitler ist insofern überhaupt kein Abwegiges, wenngleich sie kein Selbstläufer war. Überwiegend orientierte sich der gebildete Stand immer weniger an der Französischen Revolution, die Feindschaft zu Napoleon wurde hingegen zum gebildeten guten Ton. Der Code Civil hat eine Rechtsordnung nach französischen Vorzeichen gebracht. Heine goutierte dies. Adam Müller und Heinrich von Kleist haben die deutsche Fassung gemacht. Mit dem Schub in die Moderne der Humanität von außerhalb der Grenzen hatte Goethe keine Probleme. Er war eben im Kern Europäer und Weltbürger. Die damaligen Identitären aber hatten Probleme, die bis zum heutigen Tag andauern.
Foto © Düsseldorfer Karneval
Info:
http://www.harzkaleidoskop.de/berwan/johann%20wolfgang%20von%20goethe.htm
Die Teile der Serie in WELTEXPRESSO
1. Einschmelztiegel Romantik
https://weltexpresso.de/index.php/kulturbetrieb/18521-einschmelztiegel-romantik
2. Was das Romantische sei
https://weltexpresso.de/index.php/kulturbetrieb/18532-einschmelztiegel-romantik-2