Haus durchsichtigSerie: Leipziger Delegation in Kyjiv – Reise in ein Land im Krieg,    Teil IV

Susanne Tenzler -Heusler

Kyjiv (Weltexpresso) - Der Montag beginnt früh. Bezirksbürgermeister Georgii Zantaraia, einst Judo-Weltmeister, empfängt uns in einem Stadtviertel, das am 31. Juli von einer Rakete getroffen wurde. 29 Menschen starben, darunter viele Kinder. 30 Häuser wurden in den letzten Monaten völlig zerstört, mehr als 160 beschädigt. Vor den Ruinen Plüschtiere, Kerzen und wieder Fotos, Fotos von Ermordeten.


wichtig„Es war wichtig, dass die Gäste aus Leipzig mit eigenen Augen sehen, wie der Krieg das Leben unserer Menschen verändert“, sagt Zantaraia. „Viele Familien sind obdachlos. Wir müssen ihnen so schnell wie möglich wieder Wohnungen geben.“ Eine Frau räumt Schutt, stapelt Ziegel; in der Ecke stehen Möbelreste. Frauen sind es, die hier anpacken, das Land zusammenhalten, den Alltag am Laufen halten.

Am späten Vormittag gehen wir zum Gedenkort Babyn Jar. Slava Lichachev, Historiker und Vorstandsmitglied des Center for Civil Liberties (Friedensnobelpreis 2022), führt uns durch den Park. Er erzählt vom September 1941: In nur zwei Tagen wurden her über 33.000 Jüdinnen und Juden erschossen.

Insgesamt starben hier bis zu 300.000 Menschen, auch Roma, sowjetische Kriegsgefangene, Zivilisten. „Babyn Jar ist ein Symbol für die Gewaltgeschichte dieser Stadt“, sagt Lichachev. „Und für die Erinnerung, die nie abgeschlossen ist.“

SesselEr erzählt ausführlich, wie Babyn Jar in den unterschiedlichen politischen Phasen der letzten Jahrzehnte zum Erinnerungsort geworden ist: In der Sowjetzeit war das Massaker lange ein Tabuthema, offiziell wurde vor allem an die „sowjetischen Opfer“ erinnert, nicht an die ermordeten Jüdinnen und Juden. Erst 1976 wurde das monumentale Denkmal für die „ermordeten sowjetischen Bürger“ eingeweiht.

Nach 1991 kamen weitere Erinnerungszeichen hinzu: Denkmäler für jüdische Opfer, für Roma, für Kinder, für orthodoxe Priester. Zentral steht heute die Menora, eingeweiht 1991, als erstes dezidiert jüdisches Denkmal an diesem Ort. Sie ist zu einem Symbol geworden für das Gedenken an die Shoah, aber auch für die bis heute offenen Fragen: Wie erinnert eine Stadt, ein Land an so viele Schichten von Gewalt?

Direkt danach treffen wir die NGO Skhid SOS. Diese wurde 2014 in Luhansk gegründet und konnte seitdem etwa 90.000 Menschen aus den besetzten Gebieten evakuieren, wobei der Fokus häufig auf Älteren lag, die sich lange weigerten, ihre Häuser zu verlassen. Die Evakuierung erfolgte aus Wohngebieten, Städten und Dörfern im östlichen Donbas, also aus der Luhansk-Region, besonders den durch Kampfhandlungen gefährdeten „besetzten Gebieten“ entlang der Frontlinie.

Wichtig ist immer die Kommunikation, erklärt eine Mitarbeiterin. „Die Menschen müssen wissen, warum sie gehen sollen, wohin sie kommen, was sie dort erwartet.“ Dies unterstreicht die aufklärende Begleitung und das Vertrauen, das für eine solche Evakuierung nötig ist.

Das Team zählt rund 200 Mitarbeitende, davon über 70 Prozent junge Frauen. Sie organisieren flexibel Transporte – mobil und digital –, leisten psychosoziale Hilfe und dokumentieren Kriegsverbrechen in Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaften.

Und es geht nicht nur um Menschen, sondern auch um ihr Hab und Gut: Neben klassischen Haustieren wie Hunden und Katzen wurden auch Ziegen und sogar Bienenvölker bzw. Bienenstöcke mit evakuiert, alles wurde mitbedacht und mitgenommen, soweit möglich, um den Menschen wenigstens einen Teil ihres Lebensraums zu erhalten.

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Am Nachmittag fahren wir nach Podil, das Studentenviertel. Dort zeigt uns das Netzwerk Samosad, wie junge Leute den Stadtteilpark mit Leben füllen. Der Kulturclub ist Treffpunkt, es finden Sportevents statt und eine Teestube wurde wiederbelebt. Regelmäßig gibt es Theateraufführungen, zum Teil Monate vorher ausgebucht. Kleine, wichtige Inseln der Normalität, die Gemeinschaft schaffen und Gegenräume zu Trauer, Einsamkeit und Alkohol.


Dann wieder Alarm. Nur ein paar Minuten. Eine junge Frau in der U-Bahn schaut aufs Handy. Wir kommen ins Gespräch: „Heute waren es insgesamt 14 Minuten.“ Für uns zum vierten Mal während der Reise ein Schockmoment. Für sie Alltag seit drei Jahren.

3Straße mit KindersachenKurz danach steigen wir in den Bus. Abfahrt am Montagabend, zurück über Nacht. Wir sind insgesamt 27 Stunden bis nach Leipzig unterwegs. Zerrissen, aufgedreht, schlaflos. Die Bilder der letzten Tage, die zerstörten Häuser, die ständige Ambivalenz zwischen Leben und Tod, Butscha, die Frauen von Skhid SOS, die kreative Kulturszene in Kyjiw fahren mit uns zurück.

500P.S. Ein besonderer Dank gilt Tim Bohse, (internationale Friedensfachkraft im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes (KURVE Wustrow), der vor Ort Konfliktbearbeitung und zivilgesellschaftliche Stärkung in Kyjiw koordiniert) für die perfekte Vorbereitung und Betreuung vor Ort. Außerdem danken wir Gabriele Goldfuß, Leiterin des Referats Internationale Zusammenarbeit der Stadt Leipzig, für die Mit-Organisation der Reise.

Info: Webseite und Spendenkontakt.

Fotos:

©Susanne Tenzler -Heusler
Info:
Teil I der Serie : https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/35341-ankunft-in-einer-stadt-im-ausnahmezustand 
Teil II der Serie: https://weltexpresso.de/index.php/zeitgesehen/35342-alltag-im-zermuerbungskrieg
Teil III der Serie: https://weltexpresso.de/index.php/kulturbetrieb/35350-erinnerung-und-gegenwart
Teil IV der Serie: https://weltexpresso.de/index.php/kulturbetrieb/35351-erinnerung-und-gegenwart-2