VISIONEN UND WAHNSINN. Kunst der Moderne trifft auf die Gegenwartskunst im Frankfurter Städel

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main(Weltexpresso) –Harter Tag gewesen. Aber um 19 Uhr steht ein Besuch im Städel an. Was das neue Besucherangebot STÄDEL DIALOG ist, wollen wir wissen, das heute ab 19 Uhr zwei Kunstexpertinnen anbieten: Michaela Maria Kurpierz und Kathrin Tomschke. Mit uns eine größere Gruppe, überwiegend Frauen, davon die meisten jung - und zwei Männer trauen sich auch und machen dann auch den Mund auf.

 

Hier geht es nicht wie bei Führungen darum, die klugen Kunsthistorikerworte bei der Analyse und Deutung von Kunstwerken nachzuvollziehen. Hier soll ein Dialog geführt werden, vordergründig zwischen den beiden Kunsthistorikerinnen und der Gruppe, eigentlich aber vom Betrachter mit dem Kunstwerk und vom Kunstwerk mit dem Betrachter. Und damit es dazu kommt, bedarf es eben der beiden, die von Anfang an den Gekommenen Mut machen, ihre eigenen Augen zu gebrauchen und erst einmal ohne Kenntnis von Titel und Maler zu beschreiben, was sie sehen und daraus folgernd dann zu interpretieren, was die einzelnen Augen dann durchaus unterschiedlich sehen und deshalb auch differierend interpretieren.

 

Es beginnt  mit dem  großen Ölgemälde von Antoine Joseph Wiertz HUNGER, WAHNSINN und VERBRECHEN, 1853, dem man in der Ausstellung DIE SCHWARZE ROMANTIK im letzten Raum nicht entgehen kann, weil der Weg zentral darauf zuführt. Ein grausliches Bild, das, nach der Aufforderung, was man zuerst sehe, die Gruppe sofort zu beschreiben anfängt, wobei auffällt, daß von Anfang an Beschreiben und Interpretieren in Eins geht: „Die Frau ist überfordert mit dem Kind,  lächelt, aber ist voller Angst …dort, der abgeschnittene Fuß im Kessel.

 

Die Rückfragen der beiden vom Kunstdialog gehen in die Richtung: „Woran erkennt man die Angst?“ und führen so zum intensiveren Schauen und den Antworten: an den aufgerissenen Augen…dem irre Blick… „Was ist mit der Frau los?“ …Messer in der Hand, Blut, Fuß! Blickt man die Frau genau an, bekommt sie etwas Morbides, ihre Lippen sind bläulich, da sind Tränen oder ist es Schweiß? Deutlich ist beides zu sehen, was in Verbindung mit den rotunterlaufenden Augen auch Tränen und Schweiß auf Stirn und der Brust sein kann, höchste Erregung eben, zu der man heute Superstreß sagen täte, hinzu kommt die entblößte rechte Brust, die die Frau nach dem Stillen nicht wieder bedeckt hat. Daß sie sich die Haare rauft, verständlich, ihr Kind, das zugedeckt wie ein blutiges Bündel ihr im Schoß liegt, ist verstümmelt, denn der Kinderfuß steckt im Kessel. Aber ist das Kind tot? Nichts deutet beweisend darauf hin.

 

So entwickelt sich durch einzelne Beiträge eine Beschreibung des Bildes, die nun verstärkt durch die Nachfragen unserer Kunstpädagogen noch stärker in Richtung Interpretation gehen. Die wirren und aufgelösten Haare sind Ausdruck der wirren und aufgelösten Situation. Hier riecht es nach Armut, die Frau sitzt eingeengt in einer Art Keller oder unter dem Dach, auf jeden Fall ist es eine Ruine und der Himmel durch die Wand/Dachöffnung schon zu sehen. Da kommt auf einmal die Assoziation Stall. Maria und das Kind? Auch hier ist eine Frau und ein Kind, auch diese Frau trägt eine blaue und rote Gewandung, verschlissen, aber ehemals ansehnlich. Zudem hat sie einen Rosenkranz  um den linken Arm geschlungen. Eindeutige christliche Symbole. Hier aber sind keine Freude und kein Licht und erst recht keine Erlösung. Hier findet das Gegenteil statt. Der Frau fällt die Decke auf den Kopf, sie kann gar nicht aufstehen, sie ist eingeengt, eingepfercht, gedrückt, die ganze Situation ist erdrückend.

 

Hunger habe sie, sagen die einen, darum auch das Kinderbein im Kessel rechts, die anderen verweisen auf die Rübe am Boden und die zwei Kartoffeln auf dem Tisch, wo ein leerer angeschlagener Teller steht. Der Tisch ist  noch intakt, während in der Feuerstelle rechts ein Stuhlbein wie auch ein Schuh als Feuerholz dienen. Um was es geht, wie diese Situation entstanden ist, darauf kann ein am Boden links liegender Zettel verweisen, der ein amtlicher Steuerbescheid ist. Ein Alptraum dieses Bild. Genug.

 

Direkt einen Stock höher zieht einen ein dunkelgetöntes hochformatiges Gemälde an. Carlos Schwabe, in Hamburg geboren, hat sein Bild DIE WELLE 1907 gemalt, das durch den Lichteinfall eigentlich nur von rechts in das Bild hineinsehen läßt. Links spiegelt es und offenbart nur Dunkelheit. Nach dem Eindruck fragen unsere Mediatorinnen. Tote…Überschwemmung…magisch…nach was ausgreifen…Algen…was Fließendes, Meer, Gischt, unten wie Wasserfall, oben und unten Wasser, Gewänder gehen ineinander über, alles geht ineinander über, die Schaumkronen liegen auf den Köpfen. Da kommt viel an Beschreibung zusammen. Doch die nächste Frage lautet: „Wie fühlen Sie sich?“ Sogwirkung, Bedrohung, Hineinziehen, als ob man der Nächste wäre, psychedelisch, wie das Cover einer psychedelischen Band der 70er Jahre, wie die Vorbilder von Horrorfilmen, Gruseln.

 

Die nächsten Fragen gelten den Details, der übertriebenen Gestik, den Fingerzeigen, gespreizten Fingern, den ausgebreiteten Armen:  Ertrinkende oder Prophetin: „Warte, ich helfe Dir!“ Andere sehen einen Körperrausch, Märtyrerinnen, eine religiöse Bedrohung, Untote, Reinkarnierte, Trance, Drogenrausch, Anklang an exaltierte Mimik und Gestik der Stummfilme.

 

Eine neue Dimension ergibt der fragende Hinweis: „Wo sieht man so etwas?“. Anstalten, Hysterie als historische Krankheitsform der Frauen im 19. Jahrhundert, Paris, Charcot, Hexen. Sind es überhaupt Frauen? Denn da sehen einige Männer in diesen Gestalten mit den offenen Umhängen. Das ist einer der Momente, wo man an sich halten muß und dem Gesagten eigentlich Paroli bieten will, denn schaut man die Dargestellten genau an, sieht man eindeutig unter den offenen Umhängen ihre Brüste. Aber fordert man die Besucherinnen erst einmal zum Selberschauen und Interpretieren auf, lassen sich die beiden kunstpädagogisch Wirkenden auch erst einmal auf alle Antworten ein, statt wie in einem Ratespiel oder in der Schule mit 'richtig' oder 'falsch' zu antworten, was klug ist, denn die Augen vieler setzen sich dann auch bei den Brüsten durch.

 

Das wird bei einem weiteren Bild erneut zum Thema: Ist das wirklich eine Frau oder ein Mann? Aber auf dies komplexe Bild von Odilon Redon in der Ständigen Sammlung auch noch einzugehen oder von Peter Roers Tafeln ganz unten im Städel, wo es am hellsten ist und die Moderne sich ausbreitet, zu berichten, wird zu umfangreich. Gehen Sie selber ins Städel, in die Ausstellung SCHWARZE ROMANTIK sowieso, die am 8. Dezember abends/nachts durch Filme aus dem Deutschen Filmmuseum ein Schmankerl bietet – und vor allem, besorgen Sie sich das Programm mit den vielen Führungen, Vorträgen und Kunstdialogen, die einmal monatlich am Mittwoch stattfinden, der nächste am 19. Dezember zu WAS IST WIRKLICHKEIT? ALTE MEISTER TREFFEN AUF KUNST DER MODERNE.

 

www.staedelmuseum.de