wpo Relief neuHannah Wölfels Kunstwerke in der  St. Michael-Kirche, Teil 4/4

Hanswerner Kruse

Schlüchtern (Weltexpresso) Zum Schluss werden wir hier das Gemeinsame beider Reliefbilder herausarbeiten und fragen, was die Postmoderne damit zu tun hat. Beide Objekte sind unterschiedlich, das linke ist kämpferisch und aufwühlend, das rechte harmonisch und friedvoll. Beide befinden sich so zwar zunächst in Spannung zueinander, dennoch bilden sie eine dialektische Einheit:

Michael steht in den Reliefbildern am Ende der christlichen Heilsgeschichte. Der Widerstreit zwischen göttlicher Liebe und diabolischer Zerstörung, der oft die klerikale Kunst inspiriert hat, ist - so der Kunsthistoriker Held - auf drei Ebenen zu sehen:

Einmal tobt dieser Widerstreit als psychisches Drama im Inneren eines jeden Menschen, um dessen Seele Engel und Dämonen unaufhörlich ringen.Dann bestimmt dieser Dualismus den Gang der Menschheitsgeschichte seit dem Sündenfall.Und schließlich wird der Widerstreit in kosmischen Dimensionen zwischen dem Antichristen und Erzengel Michael ausgetragen. Er siegt als Anführer der himmlischen Heerscharen in der apokalyptischen Auseinandersetzung.

Damit aber tritt der Heilsplan quasi in sein letztes Stadium. Zum Zeitpunkt des Jüngsten Gerichts wird Michael - wörtlich „Wer ist wie Gott“ - im Namen Christi die Seelen der Menschen wägen, richten und der ewigen Seligkeit oder Verdammnis überantworten. Nun wird jenes dynamische Ungleichgewicht der Schöpfung, das durch die Abspaltung der aufbegehrenden, widerstrebenden Engel entstanden ist (Bild oben), durch die endgültige Verdrängung des Bösen in einen irreversiblen Ruhezustand überführt (Bild darunter). Diese drohende wie verheißungsvolle Bilanzierung der Welt und ihrer Geschichte gehört zu den faszinierendsten Themen der Sakralkunst. Aus dieser Perspektive hat Hannah Wölfel also nicht nur wichtige Szenen aus möglichen anderen herausgegriffen, sondern die semantische und ikonographische Essenz des Erzengels Michael generiert.

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Fazit
Beide Reliefs wirken zunächst realistisch, man erkennt alle Beteiligten und ihre Handlungen. Dennoch stecken sie voller herauszufilternder Bedeutungen, die Wiedererkennbarkeit muss quasi gelesen werden. Der vermeintliche Realismus ist ein immer wieder aufgelöster, das Werk ist abstrakter und moderner als zunächst vermutet.

Die Moderne, mit ihrem unaufhörlichem Streben nach Neuem, aber auch der Negation des Bestehenden, ist irgendwann an ihre Grenzen gestoßen. Sie wurde fragwürdig als sich immer weiterentwickelndes. Denn „das Meer des nie Geahnten, auf das die revolutionären Kunstbewegungen sich hinauswagten, hat nicht das verhießene abenteuerliche Glück beschieden“ (so pessimistisch beginnt Theodor W. Adornos seine „Ästhetischen Theorie“).

Hannah Wölfels Kunstwerk für die Stadtkirche Schlüchtern ist im besten Sinne postmodern, es changiert zwischen realistisch und abstrakt, zwischen Gegenwart und Vergangenem, zwischen alten und modernen Bezügen. Die Künstlerin nutzt Elemente vorausgegangener Epochen, gelegentlich auch als Zitat wie bei den Heiligenscheinen. Vor allem aber empfand sie künstlerische Fragen vorausgegangener Epochen nach und kreierte ästhetische Lösungen für die Gegenwart, etwa beim Kämpferkopf oder den Seelen.

Ihre Arbeit ist nicht durch Zitate und Versatzstücke beliebig zusammengestoppelt, sie verwarf den Engelkitsch. Aber auch als Kunst am Bau, als Zierrat dieses Gotteshauses, thematisiert ihre Arbeit sich selbst durch die Pluralität der Gestaltung: Sie ist nicht nur Dekoration oder pure Schönheit.

Die Postmoderne in der Architektur, in der Bildenden Kunst und in der Literatur ist keine Nostalgie, nicht der antiquarische Rückgriff auf Vergangenes, kein beliebiges „Anything goes“. Pluralität ist wesentliches Moment künstlerischer Praxis in der Postmoderne. In ihren besten Werken wird nicht Beliebiges einfach addiert sondern verschiedene Bildsprachen beziehen sich aufeinander, sprechen miteinander und bilden zusammen, wie es der Philosoph Wolfgang Welsch sagte, „neue hybride Gestalten.“

Zum Schluss:
In diesem Sinne gibt das Werk der Künstlerin dieser Gemeinde auch eine politische und humane Botschaft, nämlich die Möglichkeit der gelungenen Synthese unterschiedlicher Pluralitäten!


Foto:
(c) Hanswerner Kruse

Literatur:
Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main, 1973
Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1, Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt am Main, 1976
Godwin, Malcolm: Engel – eine bedrohte Art, Frankfurt am Main, 1991
Held, Heinz-Georg: Engel. Geschichte eines Bildmotivs, Köln, 1995
Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken, Stuttgart, 1990