Hannah Wölfel
Die unsägliche documenta fifteen ist endlich vorbei: Man kann eine internationale Kunstschau wesentlich schöner und trotzdem politisch machen. Das demonstriert weiterhin die 59. Biennale in Venedig, die bis Ende November zu sehen ist. Wir fassen unsere Tagebuchnotizen und Berichte aus Venedig - im April dieses Jahres - im Folgenden noch einmal zusammen. Damit wollen wir die Leserinnen und Leser von Weltexpresso ausdrücklich ermuntern, eine großartige Alternative zu Kassel wahrzunehmen.
Denn trotz ständiger, gegenteiliger Beteuerungen gab es in Kassel keine neuen Ideen und Projekte, die nicht dort bereits in den letzten 50 Jahren realisiert wurden - außer dem realen Antisemitismus. Der wurde heruntergespielt und schöngeredet, hinter den daraus resultierenden postkolonialen Debatten verschwand die Kunst. Mit der war es sowieso nicht weit her, denn Politpropaganda, kollektives Abhängen und Mitmachspiele konnten die „Entkunstung der Documenta“ (Harald Kimpel) nicht übertünchen. Nun stehen wir Kunstkenner als islamophobe Rassisten da, weil wir es wagten, das Treiben der überforderten indonesischen Gruppe Ruangrupa grundsätzlich infrage zu stellen.
Deshalb noch einmal auf nach Venedig zu Rundgängen auf der 59. Biennale !
Verfremdete lebensgroße Frauenskulpturen aus Glas. Lange abstrakte Gemälde vor gewaltigen Tonfiguren. Skurrile schwarz-weiße Malerei in Lichtkästen. Und der deutsche Pavillon ist lange nicht so „kopfig“ wie befürchtet.
Auf der 59. Biennale in Venedig kann man wieder die Sinnenfreude und faszinierende Herausforderung zeitgenössischer Kunst erleben. Nervende postkoloniale Diskurse und andere kunstfremde Debatten bleiben einem erspart.
Jedoch die Mutter aller Kunstfestivals, 1895 in Venedig gegründet, ist keinesfalls unpolitisch: Bereits nach dem Eintritt in die Giardini irritiert ein riesiger Turm aus Sandsäcken, der auf die Ukraine verweist (Foto rechts). Hier in den Gärten befindet sich der älteste Teil des Festivals mit den anfänglichen 28 Gebäuden der Nationen, erst später kam das nahe Arsenale dazu. In dieser uralten gigantischen Schiffswerft sind in vielen Hallen weitere Länder untergebracht, die dort ihre eigenen Ausstellungen inszenieren.
„The milk of dreams“, „Die Milch der Träume“, nennt Cecilia Alemani, die diesjährige Kuratorin, die Schau, die seit vielen Jahren neben den Länder-Pavillons wesentlicher Bestandteil der Biennale ist: 213 von ihr ausgewählte Künstlerinnen und Künstler aus 58 Ländern sind ebenfalls in Hallen im Arsenale und einem Gebäude in den Giardini untergebracht. Der Titel ihres Arrangements bezieht sich auf das Kinderbuch der Künstlerin Leonora Carrington (1917–2011). Darin beschreibt die Surrealistin ein magisches Universum, in dem das Leben durch die Vorstellungskraft ständig neu erdacht wird. Es ist eine Welt, in der sich alle stets verändern oder jemand anderes werden können. Man muss bloß aufmerksam durch die Bauten der alten Werft schlendern, um diese programmatische Betitelung sinnlich zu erfahren:
Der Parcours beginnt mit der riesigen Skulptur „Brick House“ von Simone Leight (Foto oberhalb), für die sie einen Goldenen Löwen erhielt. Umgeben ist sie von halbabstrakten Bildern schwarzer Künstlerinnen. Danach gerät man in ein Labyrinth aus gepresstem Torf. Aus den eineinhalb Meter hohen, nach Zimt und Kardamom duftenden Blöcken, ragen steinerne Säulen und eiserne Treppen.
Weiter geht’s mit üppigen Textilfiguren, die sich auf dem Boden winden oder auf Stegen tanzen. Gigantische Stoff- und Ledermasken glotzen von den Wänden. Mauerreste sind mit grellen Farben wild bemalt. Überall trifft man auf mächtige Skulpturen aus diversen Materialien. Viele muten an wie biomorphe Gebilde (Foto links), dazwischen hängen fantastische farbenprächtige Gemälde. Objekte Frankensteinscher Provenienz, verklären die Hochzeit von Menschen mit Maschinen oder warnen davor.
Man schwebt durch die vielfältigen milchigen Träume der Kunstschaffenden. Ihre surrealen, grotesken oder magischen Erzählungen mit künstlerischen Mitteln sind tatsächlich wie Milch: nährend aber nicht klar und eindeutig. Eben milchig. Am Ende des Parcours erreicht man die unwirkliche Halle von Precious Okoyomon. Durch eine künstliche Landschaft fließen schmale Bäche, Kieselsteine bilden Inseln, aus Lautsprechern zirpen verzerrte Töne. Dazwischen stehen dicke Figuren aus fusseligen Wollresten. Überall wächst Kudzu, eine geile Lianenpflanze, die bis zum Ende der Biennale alles völlig überwuchern wird Foto rechts).
„Keine Person entdeckt“, behauptet das iPhone im Porträt-Modus beim Ablichten eines Gemäldes von Na Chainkua Reindorf (Foto links). Es akzeptiert die schwarze Frau auf dem Bild nicht als Person. Doch dieses fotografische Malheur im Ghana-Pavillon ist keinesfalls symptomatisch für die Situation der schwarzen oder farbigen Kunstschaffenden. Im Gegenteil, sie sind in der kuratierten Ausstellung oder den Bauten der Nationen sehr präsent. Löwen-Gewinnerin Leight bespielt als erste Schwarze den US-amerikanischen Pavillon, es nehmen mehr afrikanischer Länder an dieser Biennale teil als je zuvor.
80% der in „Die Milch der Träume“ vertretenen Kunstschaffenden sind weiblich. „Aber schreiben Sie bloß nicht, das sei die Biennale der Frauen“, bittet Kuratorin Alemani. Man habe früher auch nicht von Biennalen der Männer gesprochen, weil dort kaum Frauen ausstellten: So viele Künstlerinnen seien nicht wahrgenommen oder vergessen worden. Nun will Alemani die Bedeutung der weiblichen Kreativität in der Kunst des 20. Jahrhunderts zurechtrücken. Darum wurden auch viele ältere Kunstschaffende eingeladen, 180 Ausstellende sind zum ersten Mal dabei, große Namen fehlen.
Inzwischen sind auch die Klischees von männlicher oder weiblicher Kunst aufgehoben. Technisch wirkende Plastiken, etwa mit Pumpen oder Motoren, sind keine Männersache mehr; Künstler arbeiten inzwischen auch mit textilen Materialien. Und überhaupt, was ist schon männlich oder weiblich? In den Giardini verwandeln zwei Transfrauen das österreichische Gebäude mit poppigen Fabelwesen in eine schillernde wundersame Welt: „Transgender, Transgenre, Transmedium!“ lautet ihr Credo. Die Grenzen zwischen Skulptur und Mensch, Mann und Frau, Kunst und Alltag schwinden in ihrem Ambiente der 1970er-Jahre.
Am eindrucksvollsten ist der dänische Bau von Uffe Isolotto, ein Stall, in dem eine Zentaurenfamilie offenbar die Geburt ihres Kindes nicht überlebte (Foto rechts). Die verstorbenen hyperrealistischen Tiermenschen wirken erstaunlich echt und verweisen vielleicht darauf, dass es Mischwesen nicht immer gelingt, sich einer verändernden Welt anzupassen.
Die insgesamt 80 Pavillons der Nationen greifen häufig nicht die Ausstellungsthemen der jeweiligen Biennale auf. Jedoch in der dunklen slowenischen Halle läuft man zu sanften elektronischen Klängen durch feinen Sand. Aus surrealen Gemälden leuchten noch nie entdeckte Landschaften oder gehörnte und andere fremdartige Wesen, die auf Menschen treffen. Ein Nikolaus schaut aus einem Fisch. Man taucht sofort in eine andere Welt ein, bekommt das Gefühl unter Wasser zu schweben oder zwischen Wolken zu treiben.
Fotos:
Hannah Wöllfel & Hanswerner Kruse
Info:
Eine Woche verbrachte unsere Autorin auf der 59. Biennale, die noch bis zum 27. November 2022 geöffnet ist. Bis dahin werden sie mindestens eine halbe Million Menschen besuchen. Um viel, nicht alles zu erleben, benötigt man mindestens zwei bis drei Tage. Das Festival ist eigentlich dreigeteilt, neben den Pavillons der Nationen und der kuratierten Ausstellung, gibt es noch die offiziellen „Collaterale Events“ in der Stadt mit zahlreichen weiteren Pavillons, Veranstaltungen und Ausstellungen.
Ausführliche Infos & Fotos
Die insgesamt 80 Pavillons der Nationen greifen häufig nicht die Ausstellungsthemen der jeweiligen Biennale auf. Jedoch in der dunklen slowenischen Halle läuft man zu sanften elektronischen Klängen durch feinen Sand. Aus surrealen Gemälden leuchten noch nie entdeckte Landschaften oder gehörnte und andere fremdartige Wesen, die auf Menschen treffen. Ein Nikolaus schaut aus einem Fisch. Man taucht sofort in eine andere Welt ein, bekommt das Gefühl unter Wasser zu schweben oder zwischen Wolken zu treiben.
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Hannah Wöllfel & Hanswerner Kruse
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Eine Woche verbrachte unsere Autorin auf der 59. Biennale, die noch bis zum 27. November 2022 geöffnet ist. Bis dahin werden sie mindestens eine halbe Million Menschen besuchen. Um viel, nicht alles zu erleben, benötigt man mindestens zwei bis drei Tage. Das Festival ist eigentlich dreigeteilt, neben den Pavillons der Nationen und der kuratierten Ausstellung, gibt es noch die offiziellen „Collaterale Events“ in der Stadt mit zahlreichen weiteren Pavillons, Veranstaltungen und Ausstellungen.
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