in der Schirn Kunsthalle Frankfurt bis 1. Oktober
Corinne Elsesser
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Von Otto Pienes "Anemones: An Air Aquarium", einem raumgreifenden Skulpturenensemble aus roter und durchsichtiger TPU-Folie, das sich immer wieder langsam aufbläst und bewegt, als befinde es sich unter Wasser, bis zur Faszination des verführerischen neuen Materials in den 1960er Jahren erstreckt sich der Parcours durch die Ausstellungshalle der Schirn. Dazwischen finden sich auch kritische Positionen, doch stellen diese nur eine Herangehensweise unter anderen dar. "Denn wir wollen", betont Kuratorin Dr. Martina Weinhart, "das Panorama dieses Materials in der Kunst ohne moralischen Zeigefinger entfalten".
Begeistert wurde Plastik von den Künstlern der Pop Art aufgenommen. James Rosenquist druckte sein Motiv "Forest Ranger" 1967 auf einen riesigen Vorhang aus Polyesterfilm und erweiterte so die Malerei in den Raum hinein. Das für Pop Art Künstler typische Frauenbild, das sich zum Beispiel bei Tom Wesselmann mit glänzenden starkfarbigen Oberflächen zeigt, wird von feministischen Künstlerinnen konterkariert. Kiki Kogelnik lässt für ihre "Cut Outs" 1970 männliche Kollegen als Modelle am Boden liegen, um die nach deren Körperform ausgeschnittenen Vinylfolien auf Kleiderbügeln aufzuhängen. Nicola L. zerlegt den weiblichen Körper zu einem variablen Sofamöbel aus Kunststoffkissen.
Weltraumforschung und Raumfahrttechnologie brachten neue zukunftsweisende Materialien hervor, wovon die futuristischen Architekturentwürfe der Gruppe Archigram ebenso zeugen wie das Modell eines Wohnkomplexes von Constant, "Constructie met doorzichtige 145 vlakken" von 1955, aus Plexiglas. Mit dem Material selbst beschäftigten sich César in eindrucksvollen "Expansions" (1971) und "Compressions" (1970) und Lynda Benglis, die dem (Polyurethan-)Material in ihren Performances freien Lauf liess. Christo verpackte in einer frühen Arbeit von 1965 einige Exemplare der Zeitschrift "Look" in Plastikfolie, die inzwischen aber so weit nachdunkelte, dass der Inhalt kaum mehr auszumachen ist.
Mit einer "Tassentasse" spielte Thomas Bayrle als ein Vertreter des German Pop 1969 auf die Konsumkultur der Wegwerfgesellschaft an, die durch den Einzug des Plastik in die privaten Haushalte befeuert wurde. Das Material galt als unzerbrechlich, wiederverwendbar und billig, sodass es nach Gebrauch auch weggeworfen werden konnte. Eine Erleichterung für die Hausfrau? Heute wissen wir, wie unvergänglich Plastik ist und wie penetrant es nach seiner Entsorgung über die Kreisläufe in Form von Mikro- und Nanopartikeln wieder zu uns zurückkehrt.
Im Kontext der italienischen Arte Povera baute Gino Marotta mit "Eden Artificiale" 1967/73 die Natur aus grünem Methacrylat nach. Gleich gegenüber leuchtet es ebenfalls grün. Das Frankfurter Künstlerkollektiv HazMatLab (Sandra Havlicek, Tina Kohlmann, Katharina Schücke) hat eine Bürolandschaft mit synthetischem Schleim, industriellem Nagellack und anderen Kunststoffen überzogen ("Coral Cluster", 2021/22).
Spiegelt sich in frühen Videos wie einer Performance von Konrad Lueg 1967 in der Galerie Dorothea Loehr oder der Demonstration eines unserer mobilen Lebensführung entsprechenden aufblasbaren Büros von Hans Hollein 1969 noch die Begeisterung für das neue Material, so nimmt Francis Alys eine andere Haltung ein, wenn er 2004 eine Gruppe von Straßenkehrern in Mexico City filmisch begleitet, die nachts Berge von Plastikabfall zu räumen haben. Zu den ökokritischen Positionen zählen die Arbeiten der 1983 im Senegal geborenen und in Kuweit aufgewachsenen Künstlerin Monira Al Qadiri. Mit großformatigen 3D-Drucken von Ölbohrköpfen ("Orbital 1", 2022), die mit ihren schillernden Oberflächen wie überdimensionale Schmuckstücke anmuten, weist sie auf die dominante Rolle der Erdölindurstrie, die den Grundstoff für Plastik liefert. Dennis Sierings an Stränden oder auf Mülldeponien gesammelte verrottete Plastikteile sind zuweilen kaum mehr von natürlichen Steinbrocken zu unterscheiden. Und der dänische Künstler Tue Greenfort hat auf Polyurethanquadern irisierend schillernde Pilze montiert, als ließen sie Hoffnung durchschimmern, weist er damit doch auf einen kürzlich im Amazonas-Regenwald entdeckten Pilz hin, der Plastik verstoffwechseln kann.
Am Ende des Parcours kommt noch einmal das verführerisch Schöne des Plastik zum Tragen. Richard Artschwagers aus gelben Bürsten zusammengestecktes "Ausrufezeichen" (Chartreuse) von 2008 schwebt unter einem zartfarbigen Gewebe aus Plexiglasscheiben von Berta Fischer ("Garmion", 2020) und wird flankiert von einer Kunststoffscheibe, die Craig Kaufmann zu einem Landschaftsbild geformt hat ("Untitled",1969).
Vergänglich ist Plastik in seiner künstlerischen Form. So musste Otto Pienes Raumskulptur, die 1976 für die Organisation Creative Time in New York produziert worden war, für die Ausstellung neu hergestellt werden. Und nur einige der aufblasbaren Mininanas von Niki de Saint Phalle können im Raum schweben, andere müssen platt in der Vitrine liegen, da sie zu zerbrechlich geworden sind.
Mit Pascale Marthine Tayous "L’arbre à palabres" (2012/23) dehnt sich die Ausstellung in den Außenraum vor der Schirn aus und weiter zum Senckenberg Museum, wo die Installation "An Ecosystem of Excess" von Pınar Yoldaş zu sehen ist.
Fotos:
©schirn.de
Info:
Plastic World
bis 1. Oktober 2023
Katalog: Plastic World, hrsg. Martina Weinhart, 256 S., 190 Abb., deutsch/englisch, 39 Euro (Schirn), 48 Euro (Buchhandel).