Die große Illusion – Veristische Skulptur“ im Liebighaus in Frankfurt am Main, Teil 1/2

 

Heinz Markert

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Kaum sindheutige Stadtbewohner es noch gewohnt oder wagen es, ein wenig länger in fremde Angesichte zu schauen als nur den Bruchteil einer Sekunde, um auch etwas vom Schicksal eines Mitmenschen, dem momentanen Zustand seines Innenlebens abzufangen? Das könnte auch als unmittelbar missverständlich wahrgenommen werden.

 

Schnelles Vorbeigehen und möglichst gar nicht Beachten ist die Umgangsform schlechthin in anonymen fußläufigen Verkehrsformen des Großstadtlebens. Es scheint so etwas wie eine Gesichtsvergessenheit eingerissen zu sein. Landbewohner monieren dies und möchten in einer solchen Umgebung nicht leben.

 

Veristische Skulpturen und Angesichte

 

Von einem besonderen Rang ist in diesem Zusammenhang der Besuch derAusstellung der veristischenSkulpturen und Angesichte im Frankfurter Liebighaus ('Die große Illusion'). Dieser Besuch hat, wie es scheint, Folgen, und diese geben auch entscheidend den Hauptgrund ab, diese Zeilen zu schreiben. Die Ausstellung hat nämlich tatsächlich so etwas wie eine pädagogische Funktion, eine lehrreiche Wirkung, mit einem therapeutischen Effekt und Gewinn.

 

Die keineswegs raren Beispiele und Versuche des im Liebighaus ausgestellten Verismus gab es mannigfaltig und früh schon ausgeprägt in der langen Kultur- und Kunstgeschichte, von Ägypten über Griechenland und Rom bis in die neuzeitlichen Säkula einschließlich der Gegenwart. War seit der Rückwendung zur Antike immer nur eine ominös verkürzt ausgelegte Klassizität von Werken des Altertums zu bestaunen, so war die Rolle von Standbildern und Gesichtsausdrücken in den Zeiten ihrer Entstehung eine durchaus andere, eine sehr erweiterte, tief in die Lebens- und Gefühlswelt reichende. In den Wachsfigurenkabinetten lebte der ältere Anspruch lange fort, wenn auch nur residual, denn farbige und realistische Skulpturen gerieten in der frühen Neuzeit in einen Verruf – leider. Wachs kam auch ins Hintertreffen.

 

Es ging in den alten, vormodernen Zeiten mehr um die Erfahrung und den Vollzug von Unmittelbarkeit des Sehbaren und zu Sehenden, sowohl in öffentlichen als auch privaten Räumen, auf den Straßen und Plätzen wie auch in den sakralen Winkeln von Häusern mit den üblichen intimen Altären und Kleinkultstätten zur Verehrung der Ahnen, z.B. in Form von Gesichtsabformungen. Natürlichkeit und Realistik, Wirklichkeitsfülle und Haut-an-Haut Nähe, zumindest gefühlter, imaginierter dürften für die älteren Menschen mehr im Vordergrund gestanden haben als das bloße Ausstellen und Präsentieren künstlerischer Objekte von nunmehr entrückter Art (merkwürdig eigentlich auch noch für die meisten modernen Werke).

 

Die Wiedergabe der lebensechten und lebensnahen Form und Ausprägung, bis hin zum Hyperrealismus, hat eine 4500 Jahre alte Tradition. Die Methoden hierzu sind seit frühesten Zeiten überliefert. Die imitierende Nachbildung der Körperoberfläche, die nuancierten Farbgebungsmomente der Haare, die gebrauchsgetreuen Textilien und die feinst und zartest herausgearbeiteten Glasaugenelemente sind Standard schon seit den frühen Perioden der Kunstgeschichte.

 

Das Gesicht – so sehr im Mittelpunkt aller tierischen und menschlichen Existenz

 

Die Abkehr von der ürsprünglichen Ähnlichkeit aller Lebendkörper, verbunden in animalischer Leibesverwandschaft, die Absage an alte Näheverhältnisse und gemeinsame Grundmuster der tierischen und menschlichen Erscheinung, die Abwendung insbesondere vom Antlitz der Anderen - wie stark auch immer ausgeprägt - hat Konsequenzen. Eine kürzlich erfolgte Autobahnfahrt brachte zu Bewusstsein: wir erkennen auch im anonymen motorisierten Massenverkehr die Gesichter und das Verhalten der Anderen nicht, können ihre Motive und Neigungen nicht einschätzen, fühlen uns daher unwohl und rasen die Piste entlang, um dem Unkalkulierbaren so schnell wie nur irgend möglich auf und davon zu fahren. Die Anderen signalisieren uns rundherum die abstrakte Unkalkulierbarkeit.

 

Eine Autobahnfahrt ist eine permanente Flucht, eine Hetzjagd in den Tag und in die Nacht. Die Situation schaukelt sich auf und alle fahren möglichst schnell, weil sie so schnell als nur möglich wieder runterkommen wollen von der Bahn des Unberechenbaren. Die zeitgenössischen künstlichen Formen lösen ununterbrochen ein Alarmsystem aus, mit Konsequenzen für Leib und Psyche. Alarmismus ist das auf öffentlichen Straßen und an ihren Rändern unmittelbar Gegebene. Auch wer von einem landenden Flugzeug tief überflogen wird, geht in Duck- und Kopfeinziehstellung, automatisch, unverhinderbar, was auf Dauer sehr schädlich ist für Körper und Geist. Fortsetzung folgt.

 

 

Foto: Guido Mazzoni (um 1445-1518) Kopf eines Franziskaners



KATALOG: Die große Illusion - Veristische Skulpturen und ihre Techniken., Hg. Stefan rller, Beiträge von V. Brinkmann, M. Bückling, S. Roller, H. Theiss
280 Seiten, 255 Abbildungen in Farbe
24 × 30 cm, gebunden, Fadenheftung

ISBN: 978-3-7774-2253-4

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Mit dem Katalog sieht man immer mehr und vor allem werden einem die ausgestellten Künstler nahegebracht. Wir werden in einer weiteren kunsthistorischen Besprechung der Ausstellung darauf und auch auf die Techniken eingehen und die Katalogbeiträge inhaltlich vorstellen.

 

 

INFO:

Ausstellung: Die große Illusion – Veristische Skulptur im Liebighaus bis 1. März 2015

 

Liebieghaus Skulpturensammlung
Schaumainkai 71
60596 Frankfurt – Sachsenhausen

Telefon:

069/6500490

Telefax:

069/650049-150

E-Mail:

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Internet:

www.liebieghaus.de

 

Führungen:

 

18.12. 18.00 Uhr, 20.12. 16.00 Uhr, 21.12. 15.00 Uhr, 27.12. 16.00 Uhr, 28.12. 15.00 Uhr, 3.1. 16.00 Uhr, 4.1. 15.00 Uhr, 8.1. 18.00 Uhr, 10.1. 16.00 Uhr, 11.1. 15.00 Uhr, 15.1. 18.00 Uhr, 17.1. 16.00 Uhr, 18.1. 15.00 Uhr, 22.1. 18.00 Uhr, 24.1. 16.00 Uhr, 25.1. 15.00 Uhr