en.hebron.org ilDAS JÜDISCHE LOGBUCH im Mai

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - Es geschah am 33. Tag des Omer – Mitten der Pandemie. Die Massenpanik am Lag Baomer 5781 wirft das Gedächtnis zurück auf Geschichte. Das Gedenken an den jüdischen Aufstand gegen gegen die römischen Besatzer unter Rebellenführer Bar Kochba ist auf einmal mehr als das. Er war im Jahr 132 ausgebrochen und rund drei Jahre später niedergeschlagen worden. Der Überlieferung nach endete am Lag Baomer eine Epidemie, an der damals viele jüdische Religionsschüler gestorben waren. Am Grab Bar Kochbas auf dem Berg Meron schloss sich letzten Freitag ein historischer Zyklus mit dem Tod von 45 Menschen.

Am Wallfahrtsort der Erinnerung ging die Gegenwart vergessen. Was hält die Welt in ihrem Inneren und Äusseren zusammen? Welcher Zyklus, welche Arithmetik liegt dem weltlichen Gefüge, der Schöpfung, der Natur zugrunde? Ist es die Zahl Sieben? Oder ist am Ende doch alles nichts, Willkür und Chaos – Anarchie im Universum? Warum hat die Woche sieben Tage? Zufall, Usanz, menschlicher Wille, göttliche Verheissung oder von Naturvölkern festgestellte Einheit, die mit den Jahreszeiten eine kalendarische Symbiose eingeht? In diesen Pessach-Ostertagen beginnt der Siebenerzyklus mit sieben mal sieben Tagen bis Schawuot-Pfingsten und damit der Menschenzyklus bis zum mythischen Erhalt der Gesetze.

«So hatte Gott am siebenten Tag sein Werk vollendet, das er gemacht; er ruhte am siebenten Tage von allem seinem Werk, das er gemacht» (Genesis 2,2). Sieben heisst auf Hebräisch «Schewa», davon abgeleitet ist das Wort «Schabbat», der siebte Tag. In Erinnerung an die Schöpfungsgeschichte soll an diesem Tage keine Arbeit verrichtet, sondern geruht werden.

Schabbat. Jener Tag, von dem Erich Fromm sagt, dass ohne ihn das jüdische Volk den Gang durch die Geschichte nicht überlebt hätte. Nicht das Prinzip Hoffnung, nicht die Verheissung, sondern der weltliche Ruhetag als Symbol für Transzendentales, die Jetzt-Idylle in Unzeiten. Sieben, die Zahl der Erschaffung und der Vernichtung, von Leben und Tod, von Freude und Trauer. Nach sieben Tagen sollen neugeborene Knaben den Bund mit dem Ewigen schliessen (Brit Mila), sieben Tage soll nach der Trauung gefeiert und an jedem Tag sollen sieben Segenssprüche (ScheWa Brachot) gesagt werden, sieben Tage soll getrauert werden, wenn die nächsten Angehörigen verstorben sind (Schiwa).

Sieben Gebote sind im noachidischen Kodex aufgeführt, die als erste allgemeingültige Gesetze für Menschengesellschaften galten. In jedem siebten Jahr müssen Felder und Ackerland für ein Jahr ruhen, es darf keine Ernte eingebracht werden (Schmitta), die Natur hat ihren Schabbat. Nach sieben mal sieben Jahren, im «Jowel»-Jahr, erhalten Leibeigene und Sklaven die Freiheit, Schulden werden erlassen, einst verkaufter landwirtschaftlicher Boden fällt an den Eigentümer zurück. Über sieben magere und sieben fette Jahre belehrt uns schliesslich die Geschichte Josefs. Der Zyklus von sieben Jahren, der in der modernen Ökonomie Niederschlag gefunden hat. Nicht weil es in den fünf Büchern Mose, in der Thora, so steht, sondern weil daran etwas Natürliches sein muss, eine nicht sichtbare Gesetzmässigkeit.

Die Primzahl sieben als Lebens- und Todeselixier. Die Vierte in der Zahlenreihe, die nur durch eins und sich selbst teilbar ist. Vielleicht liegt darin das Geheimnis der Sieben. Die Zahl sticht unter den anderen hervor, die sonst in der jüdischen Tradition Bedeutung haben (z. B. 1, 18, 36, 120). Nicht weil sie schön, nicht weil sie harmonisch, nicht weil sie einfügsam ist. Sie sticht hervor, weil sie nicht kompatibel ist. Früh wurde dem Zahlenwert hebräischer Worte Bedeutung zugemessen. Und es war die Kabbala, die jüdische Mystik, die letztlich den Zahlen eine besondere Bedeutung zugeschrieben hat, später die Quellentexte und Wörter nach Zahlencodes aufschlüsselte. Die Kabbala spricht von sieben Welten, die existieren werden. Wir – so will es die Lehre – leben in der sechsten. Die Erlösung erfolgt in der nächsten Welt. Dann ist das Sieben-, das Gotteswerk vollendet.

Zahlen als Symbole für die Suche nach Erklärung des nicht Begreif- und Verstehbaren. Die Zahl Sieben steht im Judentum für Leben und Tod. Für den Versuch, das Leben, die Welt, die Existenz greif- und lebbar zu machen, die Verbindung mit dem Ewigen festzumachen in einem Zyklus. Ein Kreislauf, in dem der Mensch sich bewegen kann. Ein Fundament für Bodenhaftung. Das Siebenwerk, die Schaffung

der Welt. Letztlich alles Menschenwerk, das versucht, den Gläubigen Verbindung zum Schöpfer, die Verbindung zwischen Ewig- und Endlichkeit zu vermitteln. Für die Ungläubigen Leitplanke. Denn hineingeworfen ins Dasein, kann der Verstand sich oftmals nur mit künstlichen Systemen aushelfen. Verstand, der nicht versteht, muss eingebunden werden. Wer mit der Sieben lebt, der lebt in Anlehnung an Karl Jaspers Wand an Wand mit dem nicht Verstehbaren. Er versteht nicht mehr, weiss vielleicht aber mit dem Nichtverstehen umzugehen. Die Absicherung im freien Fall zwischen Leben und Tod.

Nun ist der Siebenzyklus auf immer durchbrochen. Der 33. Tag des Omer 5781 konfrontiert Mythen, Geschichte und Realität in einem asymmetrischen Gleichnis wider die Vernunft und die Lehre mitten in der Pandemie, in der Regierungsbildung und kontrastiert Israels Selbstdisposition und die Frage nach dem jüdischen Israel nicht mehr im Spiegel Bar Kochbas, sondern einer realen Situation der Gegenwart.

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Info:
Nachdruck der drei Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 7. Mai 2021
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.