Yves Kugelmann
Cannes (Weltexpresso) - Sonntagabend in einem Garten an der Côte d’Azur. Eine bizarre Ruhe liegt an diesem warmen Frühsommerabend in der Luft bei einer stundenlangen Diskussion über Krieg, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Ohnmacht im Umgang damit als Zeugen. Gegenüber sitzt ein Intendant. George Orwells «1984» sei für ihn das Buch des 21. Jahrhunderts schlechthin – und eigentlich darüber hinaus. Was er über den totalitären Überwachungsstaat schreibt, erfüllte sich in Stalins Russland, heute mit Putin, in Maos China, heute mit Xi Jinping und den vielen anderen Despoten von Tito bis Kim. Die Publikation der Xinjiang Police Files mit detaillierten Menschenrechtsverletzungen und von Staaten wie USA und den Niederlanden benannten Genozid an der muslimischen Minderheit der Uiguren in China, lieferten nun die unverrückbaren Beweise für Chinas menschenverachtenden Totalitarismus.
Der Wissenschaftler Heiner Bielefeldt nannte China am Dienstag nach der Publikation der Berichte über die Inhaftierung einer Million Uiguren einen neototalitären Polizeistaat und beschreibt die Schreckensherrschaft eindringlich.
Was wäre diese absurde, brutale, paradoxe Welt ohne Kunst! An seiner Eröffnungsrede bei den Filmfestspielen von Cannes setzte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski den richtigen Ton auch mit der Referenz an Charlie Chaplins Film aus dem Jahre 1940. Die Filmfestspiele sollten 1939 erstmals stattfinden – was kriegsbedingt dann erst 1946 möglich war. Sie sind bis heute der Ort, an dem das Politische und der Kampf gegen Despoten und Diktaturen einen offenen Raum finden, gerade mit engagierten Arthouse Filmen aus der ganzen Welt. Chaplins Komödie war die scharfe Analyse und Vorwegnahme dessen, was viele im Moment der Erstausstrahlung nicht sehen wollten – und vielleicht auch nicht konnten.
Zwei Tage nach seinem Auftritt publizierte der «Spiegel» die Recherche über Putins Tochter. Sie soll seit Jahren in München eine Beziehung mit Münchens Ex-Ballettchef und ein Kind haben. Der Vater heisst Igor Zelensky und zeigt einen dieser Chaplin-Momente in der Gegenwart. Während in Davos am World Economic Forum (WEF) die Weltspitze über den Wiederaufbau der Ukraine spricht und klar wird, dass dieser Krieg letztlich auch schlicht als Wirtschaftsprojekt ohne Kausalität von Waffenproduktion, Zerstörung und Wiederaufbau betrachtet werden muss, wird die Zuger Rohstofffirma Glencore zur Zahlung von über einer Milliarde Franken verurteilt für Korruption und in den USA findet ein erneuter Amoklauf an einer Schule statt.
Ein Amnesty-International-Bericht notiert, dass im Berichtsjahr 2021 die Zahl von Hinrichtungen gestiegen ist, ein anderer Bericht stellt für dasselbe Jahr fest, dass die Waffenproduktion weltweit ein Höchstmass erreicht habe. Themen, die an den Filmfestspielen auch in diesem Jahr längst verarbeitet und zumindest dokumentiert sind, während die Korruption auch in der westlichen Welt zunimmt. Oligarchen hofieren, mit Regimen den Pakt des Teufels eingehen – längst nicht nur auf Regierungsebene, sondern bis tief in die Zivilgesellschaft – auch die jüdische.
Am WEF präsentiert schließlich der Schweizer Bundespräsident die Pointe des Zynismus mit seinem neu eingeführten Begriff der «kooperativen Neutralität» für die Schweiz. Die Doppeldeutigkeit in der Wirklichkeit ist wieder so ein Chaplin-Moment. Kooperiert die Schweiz nun eher mit den Despoten oder mit jenen, die von ihnen davonlaufen? Die Schweizer Geschichte liefert da eine klare Antwort, die Zukunft hoffentlich eine andere.
Foto:
©deutschlandfunkkultur.de
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 1. Juni 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Ein Amnesty-International-Bericht notiert, dass im Berichtsjahr 2021 die Zahl von Hinrichtungen gestiegen ist, ein anderer Bericht stellt für dasselbe Jahr fest, dass die Waffenproduktion weltweit ein Höchstmass erreicht habe. Themen, die an den Filmfestspielen auch in diesem Jahr längst verarbeitet und zumindest dokumentiert sind, während die Korruption auch in der westlichen Welt zunimmt. Oligarchen hofieren, mit Regimen den Pakt des Teufels eingehen – längst nicht nur auf Regierungsebene, sondern bis tief in die Zivilgesellschaft – auch die jüdische.
Am WEF präsentiert schließlich der Schweizer Bundespräsident die Pointe des Zynismus mit seinem neu eingeführten Begriff der «kooperativen Neutralität» für die Schweiz. Die Doppeldeutigkeit in der Wirklichkeit ist wieder so ein Chaplin-Moment. Kooperiert die Schweiz nun eher mit den Despoten oder mit jenen, die von ihnen davonlaufen? Die Schweizer Geschichte liefert da eine klare Antwort, die Zukunft hoffentlich eine andere.
Foto:
©deutschlandfunkkultur.de
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 1. Juni 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.