deutschlandfunkkulturDAS JÜDISCHE LOGBUCH  Anfang Juli

Yves Kugelmann

Hamburg (Weltexpresso) - Hand in Hand treten sie auf die Bühne. Standing Ovations schon vor dem ersten Ton. Das Publikum weiß, dass dies ein spezieller, einzigartiger und vielleicht letzter Moment ist, die Krönung einer Ära, das Schwinden einer Epoche und gleichsam ein musikalischer Höhepunkt, aufgeladen durch die Bedeutung von Lebensgeschichten. Martha Argerich hat Daniel Barenboim an ihr Festival in der Hamburger Laieszhalle eingeladen für einen Abend «Carte Blanche».

Wolfgang Amadeus Mozart und Franz Schubert für vier Hände stehen auf dem Programm. Die beiden blicken kurz ins Publikum und setzen sich an den Flügel. Lange war nicht klar, ob Daniel Barenboim auftreten wird, nach Monaten gesundheitlicher Probleme. Seit 1948 spielen die beiden Jahrhundertpianisten zusammen Klavier. Begegnet sind sich die beiden Kinder 1948 beim gleichen Klavierlehrer in Buenos Aires. Besser kennen gelernt haben sie sich beim gemeinsamen Vorspielen 1949 vor dem Dirigenten Sergiu Celibidache. Sie waren damals acht und sieben Jahren alt. Symphoniker-Intendant Daniel Kühnel nannte die beiden Musiklegenden «olympische Götter». Doch auf der Bühne saßen zwei hoch begabte, innig vereinte Immigranten.

Die Eltern von beiden flüchteten aus dem zaristischen Russland nach Argentinien. Früh verließ Barenboim Südamerika in Richtung Israel und lebt heute in Berlin. Martha Argerich zog es 1955 direkt nach Europa. Beide machten große Karrieren und blieben sich stets verbunden. Sie haben viele Dutzende Konzertabende vierhändig gespielt. Doch an diesem Abend saßen die zwei Kinder auf der Bühne. Bei Mozart noch etwas auf der Suche nach Harmonie, wechselten sie später die Seiten, und bei Schubert zeigte sich dann, wie Verbindung von Leben und Musik in einer herzlichen, brillanten Darbietung aufgehen können.

Hand in Hand verließen die beiden immer wieder die Bühne, sichtlich berührt vom euphorischen Publikum, taten sie den Weg vor und hinter die Bühne unzählige Male. Die Götter des Jahrhunderts sind meist die Emigranten und Immigranten geworden. Sie fielen nicht vom Olymp, sondern kämpften sich hoch. Die einen durch Begabung und Fleiß, die anderen durch Fleiß und Hartnäckigkeit – oft abhängig von viel Glück. Die Immigranten, die längst die Mehrheit der westlichen Weltbevölkerung ausmachen und immer noch als Minderheit gesehen werden. Die Konzertbühnen dieser Welt würden ohne sie kaum existieren, die Musik hat Grenzen nie aufbrechen müssen, die Nationen setzen.

Und so ist an diesem Abend viel mehr als Musik passiert mit Standing Ovations für Lebenswege, die nie Beachtung gefunden hätten, ohne die musikalische Exzellenz. Doch eigentlich müsste es umgekehrt sein. Schuberts Fantasie f-Moll für Klavier zu vier Händen D 940 wird noch lange nachklingen und den Heimatbegriff einmal mehr neu beleuchten. Zwei Kinder haben den Weg in die große Welt zusammen begonnen, Millionen von Menschen mit Musik begeistert. An diesem Hamburger Abend schwingt viel Nostalgie mit. Denn alle wissen über die Jahrgänge der beiden Künstler hinaus, dass Menschen in beschwerten Zeiten leben, die Kunst, die Bühnen wiederum als Orte der Freiheit eine Bedeutung erhalten haben, weit über die präsentierte Kunst. Da stehen sie nochmals, die beiden jüdischen Emigranten. Ein letzter Blick, ein letztes Lächeln, eine letzte Geste. Hand in Hand treten sie ab und hinterlassen traurige Zuversicht im Saal.

Foto:
©deutschlandfunkkultur

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 7. Juli 2023 
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.