Serie, Teil 5, WOANDERS GELESEN, hier Hessische Lehrerzeitung (HLZ) 7/8 2014: LERNORT MUSEUM
Bärbel Maul
Rüsselsheim (Weltexpresso) – Wie wirkte sich die Industrialisierung ganz konkret im Leben der Menschen vor Ort aus? Im Stadt- und Industriemuseum Rüsselsheim wird diese Frage am Beispiel des sozialen, technischen und kulturellen Wandels in der Landgemeinde Rüsselsheim beleuchtet, die sich im 20. Jahrhundert zur Industriestadt mauserte.
Dabei verknüpfen sich Industrie-, Sozial-, Alltags- und Kulturgeschichte zu einem vielfältigen Ganzen. Die mit dem Museumspreis des Europarates ausgezeichnete Konzeption des Hauses hat ihr Alleinstellungsmerkmal – zum Glück, möchte man sagen – inzwischen verloren: Viele Industrie- und Technikmuseen haben sich in den letzten Jahrzehnten konzeptionell ähnlich ausgerichtet.
Dennoch bleibt das Stadt- und Industriemuseum das wichtigste Museum mit industriegeschichtlichem Schwerpunkt in der Südhälfte Hessens. Seiner Grundkonzeption ist es auch bei der Entwicklung der 2013 neu eröffneten Museumsabteilung („Vom Beginn der Industrialisierung bis zum Zweiten Weltkrieg“) treu geblieben. Mit der Hinwendung zum einzelnen Menschen und seiner Biographie hat die ganzheitliche konzeptionelle Ausrichtung zusätzlich Kontur gewonnen.
Die großen Linien der Geschichte werden am Beispiel exemplarisch eingewobener Lebensläufe nachvollziehbar. Für Anschaulichkeit durch Unmittelbarkeit sorgt etwa das Beispiel der Schmiedstochter, das in die konkrete Lebenswelt des Dorfhandwerks führt. So sitzt die kleine Anna auf dem Großfoto der Schmiede mit am Arbeitsplatz des Vaters und weist auf die Einheit von Arbeits- und Wohnort hin. An einer Hörstation zieht sie später in Erinnerung an die längst abgerissene Dorfschmiede ein persönliches Resümee zu diesem Teil der Handwerksgeschichte.
Die Ausstellung bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte zu Unterrichtsinhalten der hessischen Lehrpläne (Industrielle Revolution und Soziale Frage, Erster Weltkrieg, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg) und zu Querschnittsthemen wie Geschlechtergeschichte, Globalisierung und Migration. Zu allen diesen Themen bietet die Ausstellung anschauliches Material in Biographien, Objekten und Bildquellen. Sich auf die Ausstellungsgegenstände mit ihren spezifischen Objektgeschichten einzulassen, heißt das Auge schulen, genaues Hinschauen einüben und die Interpretationsfähigkeit trainieren. Die Schülerinnen und Schüler vergleichen das Vorgefundene mit dem eigenen Erfahrungshorizont und lernen mit der Unterstützung durch die didaktischen Elemente (Texte, Grafiken und Medienstationen) und der geschulten Besucherbetreuerinnen und -betreuer des Museums Objekte als historische Quelle zu entschlüsseln und zu deuten.
Geschichte zum Anfassen
Zwei Belegschaftsfotos der Firma Opel verdeutlichen den Wandel von Arbeit innerhalb einer Generation: Hier die von Handwerkerstolz erfüllten Produzenten hochmoderner Maschinen des Jahres 1876, dort die in fast militärischer Haltung fotografierten Arbeiter der Nähmaschinenabteilung des Jahres 1902. Wer sind die Menschen auf den Fotos, was haben sie gelernt oder verdient? Welche Produkte sind auf den Belegschaftsfotos zu sehen und wie entwickelten sich die Produktionszahlen?
Auch an anderen Stellen werden die Besucherinnen und Besucher ermutigt, aktiv zu werden, sich die Geschichte buchstäblich zu erarbeiten – und das darf durchaus auch Spaß machen. Während heute eine Drehung des Zündschlüssels ein Automobil startet, müssen an einer Spielstation am Opel-Oldtimer alle damals nötigen Schritte nachvollzogen werden. Zur Belohnung erklingt dann der „Originalsound“ des Motors. In der Wagnerei setzen Besucherinnen und Besucher per Handkurbel eine Drehbank auf der Darstellung einer Werkstatt um 1840 in Schwung: Der Antrieb per Muskelkraft wird so erfahrbar. En passant werden Informationen zum Arbeitsalltag der Gesellen sichtbar, und der digital animierte Meister kann seinen zum Fleiß mahnenden Zeigefinger heben. Und wenn Johnny Depp unvermutet als verrückter Hutmacher aus „Alice in Wonderland“ in der giftbelasteten Hasenhaarschneiderei aufleuchtet, werden kulturhistorische Adaptionen krank machender Arbeitsbedingungen augenfällig.
Lokalgeschichtliche Bezüge
Die großen Ereignisse und Entwicklungsstränge der Geschichte werden immer wieder auf die lokale Ebene zurückverfolgt: Der Militarismus des Kaiserreiches spiegelt sich in den Andenken hiesiger Wehrpflichtiger, das Grauen des industrialisierten Krieges in der Inszenierung eines Grabenkampfes, in Feldpostbriefen nach Rüsselsheim und der Rüstungsproduktion bei Opel. Die Kirchenfenster aus einer Stiftung des gefallenen Ludwig Opel zeigen eine verbreitete Form des zeitgenössischen Umgangs mit der Urkatastrophe der Moderne. Fortsetzung folgt.
INFO:
Dr. Bärbel Maul
Die Autorin ist Leiterin des Stadt- und Industriemuseums
Stadt- und Industriemuseum
Hauptmann-Scheuermann-Weg 4 | In der Festung
65428 Rüsselsheim
Informationen über Öffnungszeiten, Eintrittspreise und Gruppenführungen findet man unter
www.museum-ruesselsheim.de
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der HLZ aus HLZ 7/8 Seite 12/13