Serie, Teil 9, WOANDERS GELESEN, hier Hessische Lehrerzeitung (HLZ) 7/8 2014: LERNORT MUSEUM
Thomas Altmeyer
Hessen (Weltexpresso)- Wer an die NS-Zeit denkt, hat unweigerlich die großen Orte des Geschehens im Blick, die Orte, an denen politische Gegner, sozial und rassistisch Ausgegrenzte verfolgt, misshandelt und ermordet wurden. Auschwitz, Buchenwald oder Dachau sind die Chiffren der Verfolgung.
Man denkt vielleicht auch an die großen Städte, in denen sich wichtige Teile der NS-Geschichte manifestierten: Berlin als Reichshauptstadt, München als „Stadt der Bewegung“, Nürnberg als „Stadt der Reichsparteitage“ oder auch Frankfurt. Neben Darmstadt und Kassel gehörte die Stadt am Main ab Oktober 1941 zu den zentralen Deportationsorten Hessens. 1935 mussten die Nazis die liberale und jüdisch geprägte Handelsstadt mühevoll zur „Stadt des deutschen Handwerks“ umdeklarieren.
Hessische Orte der NS-Verbrechen
Die Verbrechen des Nationalsozialismus geschahen aber nicht nur an diesen Orten. Es gab eine komplexe Vielfalt der Lagerformen und Repressionsinstanzen bis in die Mitte der Gesellschaft hinein, bis aufs „flache Land“. Dies gilt für das „Deutsche Reich“ im Allgemeinen, aber auch für das Gebiet, das das heutige Bundesland Hessen bildet. Auch im Taunus, dem Westerwald oder im Odenwald finden sich zahllose Lager für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, KZ-Außenlager oder Orte, die mit den Todesmärschen von KZ-Häftlingen oder anderen Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges in Verbindung stehen. Deutlich wird dabei, dass die Opfer der nationalsozialistischen Politik keineswegs nur Jüdinnen und Juden oder politische Gegner des Regimes waren.
Auch Sinti und Roma, Behinderte, Menschen, die als „asozial“ stigmatisiert wurden, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und viele andere wurden Opfer der NS-Verfolgung. Die „Heimatgeschichtlichen Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung“, die der Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945 in zwei Bänden für Hessen Mitte der 1990er Jahre herausgegeben hat, illustrierten dies auf eindringliche Weise. Die lokal- und regionalgeschichtlichen Forschungen der letzten 20 Jahre würden dieses Bild noch umfangreicher und detaillierter werden lassen. Man denke nur an die im Rahmen von Recherchen für Stolpersteine erarbeiteten Biografien von Verfolgten des NS-Regimes.
Spurensuche vor Ort
Die Vielfalt der Lagerformen, Repressionsinstanzen und Verfolgtengruppen spiegelt sich in den zahlreichen lokalen und regionalen Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen, die in Hessen (aber auch in anderen Bundesländern) aktiv sind. Die meisten dieser Initiativen und Einrichtungen entstanden in den 1980er und 1990er Jahren „von unten“, meist in Form einer Initiative von Bürgerinnen und Bürgern, die sich mit einer verdrängten oder verklärten Vergangenheit auseinandersetzen wollten. Sie gingen auf die Suche nach den Verfolgungs- und Leidensgeschichten anderer, oft „vergessener“ Bewohner ihrer Orte. Sie fragten nach der Geschichte der Menschen, die ihre Toten auf dem jüdischen Friedhof beerdigt hatten und nun nicht mehr Teil des Dorfes und des öffentlichen Gesprächs waren. Sie fragten nach „ausländischen Erntehelfern“ oder nach der Geschichte der Gemeinde vor 1945 und problematisierten den lokalen Blick auf die Vergangenheit.
In langjährigen und mühseligen Prozessen und mit viel Gegenwind gelang es Aktiven der Erinnerungsarbeit seit den 1980er Jahren der Öffentlichkeit und der Kommunalpolitik ein lokales und regionales Gedenken abzuringen. Sie hatten und haben wesentlichen Anteil daran, dass der Nationalsozialismus in seiner Breite und Tiefe, aber auch in seinen lokalen und regionalen Erscheinungsformen und Ereignissen – bei allen noch bestehenden Lücken – gut ausgeleuchtet ist. Es ist ihnen gelungen, den Nationalsozialismus in das Lebensumfeld der Gegenwart zu rücken, in das Lebensumfeld des Einzelnen. Sie haben mit Gesprächsveranstaltungen mit Überlebenden, mit Ausstellungen, Konzerten, Publikationen und historischen Stadtrundgängen in die lokale und regionale Kulturarbeit hineingetragen und so die Erinnerung an die NS-Zeit zu einem Bestandteil der politischen Kultur werden lassen. Die überraschte Frage „Was, hier bei uns ist so etwas passiert?“ ist ein idealer Ausgangspunkt für die weitere und tiefere Auseinandersetzung mit der Geschichte.
Inzwischen haben sich über 30 Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen in der 1999 gegründeten Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit in Hessen (kurz LAG Hessen) zusammengeschlossen. Nur wenige Einrichtungen wie die Gedenkstätten Breitenau, Hadamar, Stadtallendorf und Trutzhain werden vom Land institutionell gefördert. Einige bekommen städtische oder kommunale finanzielle Unterstützung. Ein Großteil der Gedenkarbeit ist und bleibt aber auf das Engagement Einzelner, auf Mitgliedsbeiträge und Spenden angewiesen.Fortsetzung folgt.
Foto: KZ-Außenlager Münchmühle bei Stadtallendorf/Hessen
INFO:
Die Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit in Hessen (LAG Hessen) wurde 1999 in Marburg gegründet. Der Sprecherrat besteht aus Thomas Altmeyer (Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945 e. V.), Fritz Brinkmann-Frisch (Dokumentations- und Informationszentrum Stadtallendorf), Renate Dreesen (Arbeitskreis ehemalige Synagoge Pfungstadt und Denkzeichen Güterbahnhof Darmstadt), Hans Gerstmann (Gedenkstätte und Museum Trutzhain und Arbeitskreis Spurensuche im DGB) und Dr. Gunnar Richter (Gedenkstätte Breitenau). Einen Einblick in die hessische Gedenkstättenlandschaft bieten die Homepage der LAG www.erinnern-in-hessen.de und eine im Sommer 2014 erscheinende Informationsbroschüre. Eine Ausstellung über das „Erinnern an die NS-Zeit in Hessen“ ist in Arbeit.
Weitere Informationen zur Gedenkarbeit in Hessen bietet das Referat 2/III (Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, Zeitgeschichte, Rechtsextremismus) der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung. Dort können auch finanzielle Mittel für Gedenkstättenfahrten oder Zuwendungen für Projekte beantragt werden.
Die Reihe „Hessische Geschichte“ stellt seit 2012 darüber hinaus Menschen und Orte vor, die die Jahre 1933 bis 1945 näher beleuchten.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und der HLZ aus HLZ 7/8 Seite 16/17