Wenn Menschen anders als andere sind, Teil 1
Hanswerner Kruse
Fulda (Weltexpresso) - Im Ferienhotel sitzt der achtjährige Philipp am Frühstückstisch und liest versunken in einem Fachbuch der Quantenphysik. Die Eltern und beide größeren Geschwister sind froh, dass Philipp Ruhe gibt. Nur die andere Hotelgäste betrachten verwundert die Szene, die wie aus einer Komödie über ein eigenwilliges hochbegabtes Kind wirkt.
Doch für die Familie K. war das Verhalten Philipps, der mit 3 Jahren als „Autist“ etikettiert wurde, früher selten amüsant. Bis zur Diagnose fand die Mutter ihr Kind „komisch und fremdartiger als ihre ersten beiden Söhne.“ Philipp spielte nicht mit seinen Autos oder Playmobil-Figuren, sondern ordnete sie akribisch und war außer sich, wenn sie, etwa beim Staubwischen, anders hingestellt wurden. „Sein Weinen war dann oft sehr verzweifelt“, erinnert sich Frau K., „das war nicht trotzig.“ Deshalb sprach sie auch kein „Machtwort“, wie Verwandte es in solchen Situationen manchmal forderten. Über Philipps ersten Schnee musste sie ihn tragen, denn er weigerte sich darauf zu laufen. Schwimmengehen wurde zur Katastrophe, weil das Kleinkind im Wasser ohne den Boden unter den Füßen ausrastete. Dafür zeichnete er im Vorschulalter die DNA-Struktur mit Kreide auf die Straße, sein Lieblingsbuch war „Atome und Energie“.
Philipp hat kaum Erinnerungen an diese Kinderzeit bis zur Einschulung. Als die Mutter über seine Angst, den Boden beim Schwimmen zu verlieren spricht, fragt er überrascht: „War das Angst?“ Im Gespräch bleibt er oft an Worten hängen, denkt lange über sie nach oder hinterfragt ihre Bedeutung. In der Schule verliert er dadurch oft den Faden oder versteht Dinge anders, als sie gemeint sind.
Besonders Emotionen, die durch Mimik und Gestik stark die Kommunikation prägen, kann er schlecht einschätzen. Ironie oder Sprichwörter versteht er häufig gar nicht. Ganz offensichtlich braucht Philipp klare Strukturen und eindeutige Botschaften. Aber er sagt, „ich will mir abgewöhnen so viel zu grübeln, ich möchte entspannter werden.“ Er kann mit diesen Begrenzungen leben, denn er weiß, dass seine überragende Intelligenz eine große Ressource ist, um Schwierigkeiten zu meistern.
Phillip wurde als kleines Kind ergotherapeutisch behandelt, beispielsweise wollte oder konnte er kaum die Füße aufsetzen und musste lernen, „richtig zu gehen“ oder - im übertragenen Sinne - sich zu erden. In der Kita mit intensiver Förderung und der Sprachheilschule waren die Gruppen so klein, dass er sich mit anderen Kindern auseinandersetzen musste. Erst mit 8 Jahren, in der Hauptschule mit größeren Klassen, war Frau K. besorgt um seine sozialen Kontakte: „Er wollte immer allein sein, ging nie auf andere Kinder zu.“ Gegen den Rat der Kinderärzte machte sie eine Ausbildung zur Tagesmutter. Als erstes Kind betreute sie den fünfjährigen, überaus stabilen und bodenständigen Nils, der Philipp einfach in seine Spiele mit einbezog.
Durch die frühzeitigen Behandlungen, die empathisch mit Philipp umgehende Familie, das Engagement der Mutter und ihren guten Kontakt zur Schule entwickelte sich der Junge ziemlich unauffällig. In der Realschule und im Gymnasium glänzte er in den naturwissenschaftlichen Fächern. Irgendwie galt er zwar immer als Sonderling, der alles genau wissen wollte und immer bohrende Fragen stellte – aber er wurde nicht als Nerd gemobbt. Philipp fühlt sich auch nicht behindert, im Gegenteil, man spürt seinen Stolz auf seine Begabung. Er steht zu seinem Anderssein und meint: „Ich mache das, was für mich gut ist!“
Philipp studiert demnächst Mathematik und Physik, ist sich aber noch nicht sicher, ob er dazu im Herbst wirklich von zu Hause weggehen wird. Schon vor einiger Zeit begann seine Ablösung von der besorgten Mutter. Eines Tages wollte der gerade Volljährige von ihr etwas Geld sowie seinen Personalausweis („…zum Bier zu kaufen…“), um einige Tage alleine wegzufahren. Das war für die Mutter ein - wie sie heute sagt - „heilsamer Schock“, denn im Gespräch machte Philipp ihr klar, „Mama, ich fühle mich von Dir eingeengt.“ Da wusste sie, “nun steht die Ablösung an“ und ist heute überzeugt, dass Philipp alleine im Leben klar kommen wird.
Philipps Familie lebt im Fuldaer Raum, die Namen und Lebensumstände wurden für den Text stark verändert. Mutter und Sohn haben sich auf das lange Gespräch eingelassen, weil sie Familien - die ein Kind haben, das „anders“ ist - Mut machen wollen. „Ich hätte mir manchmal Kontakte zu Eltern in ähnlichen Situationen gewünscht“, meint Frau K.
HINTERGRUND AUTISMUS
Der wohl bekannteste Autist ist Dustin Hofmann in seiner Rolle als Raymund im Film „Rain Man“. Raymund ist partiell überaus intelligent, hat aber große Probleme sich auf soziale Kontakte einzulassen und angemessen zu kommunizieren. Viele alltägliche Dinge kann er nicht ausführen, er verweigert jede Abweichung von seinem strukturierten Tagesablauf. Deshalb geht er letztlich auch wieder ins Heim zurück.
Raymunds Verhalten ist typisch für Menschen mit autistischen Symptomen, allerdings können sie in eher abgeschwächter Form auftreten wie bei Philipp K. (Asperger-Syndrom) aber auch noch wesentlich stärker. Bereits als Kleinkinder können sie keine mimischen Reaktionen zeigen oder Berührungen aushalten (Kanner-Syndrom). Im „Autismus-Spektrum“ sind die Symptome und Übergänge fließend. Die Ursachen dieser „tiefgreifenden Entwicklungsstörung“ sind vielfältig, nach den kalten Müttern, den abweichenden Genen oder dem kranken Hirn werden heute multikausale Prozesse angenommen.
Die moderne Klassifikation (nach der ICD 10) vermeidet sowieso jegliche Benennung von Ursachen. Auch wenn der Autismus nicht „heilbar“ ist, so kann er doch sehr stark durch eine angemessene Pädagogik und günstige soziale Entwicklungsbedingungen beeinflusst werden. Philipp K. hätte unter anderen Entwicklungsbedingungen auch extrem „verhaltensauffällig“ und „aggressiv“ werden können. Niemand wird wohl jetzt im Erwachsenenalter Anstoß an seiner besonderen Art nehmen, die er als Teil seiner Persönlichkeit betrachtet.