Zum Prozess gegen den „Buchhalter von Auschwitz“
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Zu einem guten Stück gehört ein reuiger Sünder. Das wusste auch der Urheber der Abenteuer des braven Soldaten Schwejk, Jaroslav Hašek, als er das Kapitel über den reuigen Schwejk verfasste, der während einer Predigt des Feldkuraten Katz zu weinen begonnen hatte.
Geweint hat der ehemalige SS-Mann Oskar Gröning zwar nicht, als er sich mit „Demut und Reue“ zu seiner Mitschuld am Massenmord von Auschwitz bekannte, aber Erstaunen und Aufsehen erregte er damit auf jeden Fall. Bis dahin hatten ehemalige SS-Leute vor Gericht jedes menschliche Wort vermissen lassen, wie der Initiator des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, Fritz Bauer, einst bedauernd feststellen musste.
Beeindruckt vom Auftreten des „Buchhalters von Auschwitz“ vor dem Landgericht Lüneburg zeigte sich selbst Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 22. April. Das sei ein neuer Akzent in der unguten Geschichte der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Diese Geschichte der NS-Prozesse sei eine furchtbare, eine elende und traurige Geschichte, geprägt von einer widerwilligen Justiz. Ja, furchtbar, elend und traurig ist diese Geschichte, aber einen neuen Akzent hat der Angeklagte bei Gott nicht gesetzt. Er ist einer von den ganz Hartgesottenen, der sein Wissen um das Geschehen in Auschwitz mit ins Grab genommen hätte, wäre es ihm nicht selbst doch noch an den Kragen gegangen. Mehr als 70 Jahre hat er kein Wort des Bedauerns für die Opfer gefunden. Akribisch hat er aufgeschrieben, was sie hinterlassen haben. In einer Aufstellung über „abgegebene Kleidung usw.“ fasst der SS-Hauptsturmführer Kersten unter anderem zusammen:
Kinderbekleidung: Mäntel 15 000 Stück, Knabenröcke 11 000 Stück, Knabenhosen 3 000 Stück, Hemden 3 000 Stück, Schals 4 000 Stück, Pullover 1 000 Stück, Unterhosen 1 000 Stück, Mädchenkleider 9 000 Stück, Mädchenhemden 5 000 Stück, Schürzen 2 000 Stück, Schlüpfer 5 000 Stück, Strümpfe 10 000 Paar, Schuhe 22 000 Paar. Nachzulesen in Reimund Schnabel, „Macht ohne Moral – Eine Dokumentation über die SS“, Frankfurt/Main 1957, Seite 245. All diese Kleidungsstücke wurden desinfiziert und verschiedenen Stellen zur weiteren Verwendung zugeleitet.
Was mit den Kindern geschehen war, die sie getragen hatten, beschrieb der SS-Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höss, am 5. April 1946 in einer eidesstattlichen Erklärung so:
„Kinder im zarten Alter wurden unterschiedslos vernichtet, da auf Grund ihrer Jugend sie unfähig waren, zu arbeiten. Sehr häufig wollten Frauen ihre Kinder unter den Kleidern verbergen, aber wenn wir sie fanden, wurden die Kinder natürlich zur Vernichtung hineingesandt.. Der faule und Übelkeit erregende Gestank, der von der ununterbrochenen Körperverbrennung ausging, durchdrang die ganze Gegend, und alle Leute, die in den umliegenden Gemeinden lebten, wussten, dass in Auschwitz Vernichtungen im Gange waren.“ (Gerhard Schoenberner, Der Gelbe Stern, Hamburg 1960, S.136)
Wurde dem SS-Unterscharführer Oskar Gröning nicht schlecht, als er in Auschwitz Buch darüber führte, wie viel Kleidungsstücke die Ermordeten zurück gelassen haben und wie viel Wertgegenstände ihnen vor dem Tod in den Gaskammern weggenommen worden waren? Anscheinend nicht, er hielt alles für normal, was da im Namen eines Kulturvolkes in der Mitte Europas geschah. „Wir waren dressiert, auf Befehl zu handeln, gleichgültig, was auch passierte“, sagte er jetzt vor Gericht. Mit seiner Tätigkeit verschaffte der „Buchhalter von Auschwitz“ laut Anklage dem NS-Regime wirtschaftliche Vorteile. Gleichzeitig habe er Beihilfe zum Mord in mehr als 300 000 Fällen geleistet. Und dann so ein Reuebekenntnis? Verdient das Anerkennung? Gewiss, an seinen Händen klebt kein Blut, aber er war eines der vielen kleinen Rädchen, ohne die Auschwitz nicht funktioniert hätte. Da wundert man sich schon über Günter Jauchs blauäugige Frage an die Gäste seiner Talkshow: „Was bringt ein Prozess gegen einen 93jährigen SS-Greis?“ Richtigerweise hätte der Schnelldenker fragen müssen: Warum wird der Mann erst jetzt vor Gericht gestellt?
Genau das ist der Punkt. Vor fast vierzig Jahren wurde schon einmal gegen Gröning ermittelt, aber die Frankfurter Staatsanwaltschaft – Fritz Bauer war damals nicht mehr am Leben – stellte das Verfahren gegen ihn mangels Beweisen ein. Die damalige Rechtsauffassung verlangte, dass jemandem die unmittelbare Beteiligung an einer strafbaren Tat nachgewiesen werden müsse, um ihn belangen zu können. Der hessische Generalstaatsanwalt Bauer vertrat dagegen die Meinung, wer als Teil der Mordmaschinerie tätig gewesen ist, müsse auch ohne den Nachweis einer konkreten Einzeltat als Täter oder Mittäter belangt werden. Der Bundesgerichtshof als oberste Instanz lehnte das ab. Deshalb blieben viele Naziverbrecher ungeschoren.
Erst viele Jahre später, im Prozess gegen den ukrainischen Wachmann des Vernichtungslagers Sobibor, John Demjanjuk, machte sich das Landgericht München Bauers Rechtsauffassung teilweise zu eigen und verurteilte den Angeklagten wegen Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren Gefängnis. Auf der Grundlage dieses Urteils kam es jetzt zu dem Prozess gegen Oskar Gröning. Mit ihm steht in Lüneburg auch die furchtbare, elende und traurige Geschichte der Nachkriegsjustiz vor Gericht, die eine rechtzeitige Bestrafung der Schuldigen verhindert hat. Der „Buchhalter von Auschwitz“ als reuiger Sünder spielt dabei, mit Blick auf die historischen Zusammenhänge, nur eine Nebenrolle. Anders als den braven Soldaten Schwejk wird ihn am Ende jedenfalls niemand anschreien: „Gesteht, du Lump, dass du nur hetzhalber geweint hast.“
Foto:
Brillen der Ermordeten, hier auf einem Haufen, gezählt vielleicht durch den Angeklagten