Serie: ZUM 8. MAI 1945: Kapitulation und Befreiung, Teil 1: Überblick

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - 70 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges am 8. Mai ist ein Blick zurück nicht nur notwendig, sondern auch deshalb aufschlußreich, weil sich in diesen 70 Jahren die Einschätzung dieses Tages nach und nach geändert hat. Nach der mehrheitlichen Auffassung der durch die 12 Jahre Diktatur geprägten Deutschen - natürlich könnte man auch sagen, die Prägung war schon vor 1933 vorhanden, weshalb die Nationalsozialisten an die politische Macht kamen - war infolge der Kapitulation der Untergang Deutschlands eingetreten.

 

Für weniger Deutsche war der 8.Mai ein Tag der Befreiung, natürlich für alle diejenigen, die durchgeblickt hatten und das nationalsozialistische System als von Grund auf verbrecherisch erkannt und unter den Folgen gelitten hatten, nicht nur für sich selbst, sondern für die im Deutschen Namen durch industriellen Massenmord verübten Verbrechen. Befreiung war es erst recht für alle echten und vermeintlichen Widerständler und für alle Opfer dieses mörderischen Systems. Dabei sind die Begriffe von Kapitulation und Befreiung eigentlich keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Unsere Überschrift, die beide Begriffe durch ein 'und' verbindet, soll das verdeutlichen. Solange aber eine Mehrheit sich auf Kapitulation als Niederlage der Deutschen verstehen wollte und nicht lediglich als Niederlage des nationalsozialistischen Systems und darin nicht die Chance für einen moralischen und politischen Neuanfang erkannte, haben die meisten Deutschen den 8. Mai allein als Tag der Niederlage empfunden, selbst diejenigen, die froh waren, daß der Krieg vorbei war.

 

Wir können also heute die 70ste Wiederkehr des Endes des Zweiten Weltkriegs nicht mehr ohne das Wissen, wie es danach weiterging, begehen. Noch dazu, wo sich in den Jahren nach 1945 zwei Deutschlands etablierten, von dem sich Westdeutschland als das eigentliche Deutschland – und Rechtsnachfolger des in der Kapitulation niedergegangenen Deutschen Reiches – verstand. Wie sich also die Sicht auf den 8. Mai im geschichtlichen Verlauf der Bundesrepublik Deutschland und der DDR – natürlich müßte man korrekt erst von den Westzonen und der Ostzone sprechen – verändert hat, soll unsere Serie auch bewegen.

 

Deutlich wird aus diesem aber auch unsere Nabelschau, zu der die Deutschen wohl sowieso neigen. Denn der 8. Mai ist für die alliierten Siegermächte ein Tag des Sieges. Aber gilt diese für Frankreich, England, USA und UdSSR in der gleichen Weise? Nein. Es ergeben sich in der Bedeutung der Kapitulation Deutschlands für alle vier Siegermächte sehr unterschiedliche Betrachtungsweisen, die sich noch dazu in der Nachkriegsgeschichte dieser vier Länder ebenfalls wandeln. Um dies fundiert darstellen zu können, kam uns eine Tagung der Hessischen Landeszentrale im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt gerade recht: ein Symposion am 21. April 2015 „Der 8. Mai im Geschichtsbild der Deutschen und ihrer Nachbarn.“

 

Das erste, was man dabei lernt, ist, daß nicht durchgängig der 8. Mai als Kriegsende begangen und gefeiert wird, sondern daß zwei Kapitulationen stattfanden: am 7. Mai in Reims für die westlichen Alliierten, am 8. Mai in Berlin für alle Siegermächte, was aufgrund der Zeitverschiebung in Moskau am 9. Mai in geschah, weshalb im Westen der 7. Mai zum Stichtag des Sieges über Nazideutschland wurde und in Moskau am 9. Mai der Große Vaterländische Krieg zu Ende ging, mit rund 26, 5 Millionen toter Sowjetbürger übrigens, gegenüber rund 6 Millionen toten Deutschen. Auch diese Zahlen werden in Deutschland wenig reflektiert.

 

Blickt man auf die Geschichte der Bundesrepublik zurück, so kann man konstatieren, daß 1945 keine Katharsis stattgefunden hatte, sich keine Einsicht und kein Wille zu einem wirklichen gesellschaftlich-politischen Neuanfang entwickelte. Die Stationen des „Lernens“ der bundesdeutschen Bevölkerung lassen sich benennen. Zu ihnen gehören der Remerprozeß von 1952 in Braunschweig und die Auschwitzprozesse ab 1963 in Frankfurt am Main. Nicht zufällig war es beide Male der nachmalige Generalstaatsanwalt von Hessen, Fritz Bauer, der diese Verfahren in Gang gesetzt hatte. Ein weiterer Schritt und eine tatsächlich nachhaltige Erschütterung löste der US-Fernsehvierteiler über das Schicksal der jüdischen Familie Weiss im Januar 1979 aus, dessen Titel Holocaust seit damals zum Synonym für die systematische Judenvernichtung in den KZs durch Vergasung und Verbrennung wurde. Erst seit damals kann man davon sprechen, daß in Deutschland in wiederkehrenden Wellen die Aufarbeitung geschichtlicher Schuld stattfindet.

 

Zwei Dinge zum Schluß: Man muß den 8. Mai 1945 immer im Zusammenhang mit 1939 und 1933 sehen. Es müßte alles das, was in Deutschland zum 8. Mai veröffentlicht wird, immer auch reflektieren, wie die Westdeutschen im Zeitraum nach 1945 bis weit in die 80er Jahre mit der NS-Zeit legitimatorisch und unbewältigt umgegangen sind und dies an Beispielen 'beweisen'. Für die DDR gälte, in welcher Weise von oben, von der Parteiführung der SED der 8. Mai gewichtet wurde, ob es da Änderungen gab.

 

Wir beginnen mit dem Glück im Unglück, das zu Kriegsende einem jungen sudentendeutschen Soldaten widerfuhr, der den Verlust seiner Heimat immer als Folge der Hitlerpolitik und der Naziverbrechen verstand - anders als die Vertriebenenverbände agierten, die die Schuld auf der anderen Seite sahen - und der daraus sein Leben lang die Verpflichtung verspürte, sich einzumischen in die öffentlichen Belange und Roß und Reiter zu nennen, damit nie wieder Leute „nichts gewußt haben“.

 

P.S.:

Der Umfang der ungeheuerlichen Verbrechen der Naziherrschaft, stellt sich heute noch weitaus grauenvoller dar, als man es 1945 wußte oder ahnte. Obwohl ein aufgeklärter Bundesbürger glauben mochte, er wisse alles über den Naziterror, treten immer wieder neue Sachverhalte zutage, die zuvor nicht allgemein bekannt waren, wie z.B. der Massenmord an rund zweieinhalb Millionen russischen Kriegsgefangenen. Dazu gehört auch, daß 70 Jahre nach Kriegsende derzeit ein Verfahren gegen einen Auschwitz-“Buchhalter“ stattfindet, der also diese lange Zeit unbeschadet weiterleben durfte und damit auch ein Beispiel ist für alle diejenigen, die niemals wegen ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurden.

 

Info:

Ein Bezugspunkt unserer ist das Symposion der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am 23. April 2015: Der 8. Mai im Geschichtsbild der Deutschen und ihrer Nachbarn.