Bioinformatiker bauen evolutionäre Brücken zwischen den Arten an der Goethe-Uni

 

Hubertus von Bramnitz

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wie nahe sind Mensch und Maus verwandt? Ein Maß dafür ist die evolutionäre Zeit, die beide von ihrem letzten gemeinsamen Vorfahren trennt. Doch wie mißt man diese Zeit im Rückblick? Solche Fragen sind relevant, wenn man in der klinischen Forschung Erkenntnisse von Modellorganismen auf den Menschen übertragen will.

 

In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „Forschung Frankfurt“ erklärt der Bioinformatiker Prof. Ingo Ebersberger, wie man Stammbäume mithilfe stochastischer Modelle rekonstruiert und so Brücken zwischen den Arten schlägt.

 

Auf molekularer Ebene lässt sich die Evolution als ein Zufallsprozess beschreiben, der DNA-Sequenzen im Laufe der Zeit verändert. Um das Ausmaß an Veränderung messen zu können, müsste man eine heute beobachtbare Sequenz mit ihrem evolutionären Vorläufer vergleichen. Da dieser aber in der Regel unbekannt ist, bestimmt Ebersberger die Verwandtschaft zweier heute existierender Organismen, indem er die Sequenzen vergleicht, die sie sich einen gemeinsamen Vorfahren teilen. Die vergangene Zeit wird dann in Substitutionen pro Position gemessen.

 

Im einfachsten Fall bestimmt man die Anzahl der Positionen, die man minimal austauschen muss, um eine Sequenz in die andere umzuwandeln“, erklärt Ebersberger. Doch damit unterschätzt man die wahren evolutionären Zeiten erheblich, weil einzelne Positionen in sich in Millionen bis Milliarden Jahren mehrmals verändern können.

 

Stattdessen modelliert seine Arbeitsgruppe die zeitabhängige Veränderung der Sequenzen mit geeigneten stochastischen Modellen und bestimmt dann, wie wahrscheinlich ein beobachtetes Muster zu einer bestimmen Zeit ist. Der Rest ist Fleiß: Man wiederholt diese Berechnung für beliebig viele Zeiten und wählt schließlich die wahrscheinlichste aus.

 

Diese „likelihood-basierten“ Ansätze sind eine mächtige Methode, die Sequenzevolution auch über sehr weite Zeiträume hinweg zu rekonstruieren. Die Astlängen des resultierenden phylogenetischen Baums – eine Variante des allseits bekannten Familienstammbaums – reflektieren die (evolutionären) Zeiten, die vergangen sind, seit sich zwei Sequenzen einen gemeinsamen Vorfahren geteilt haben.

 

Um aus Genbäumen auf die Verwandtschaftsbeziehungen schließen zu können, berücksichtigt man nur solche Gene, die zwei heutige Arten sich mit dem letzten gemeinsamen Vorfahren teilen, sogenannte Orthologen. Dann ist der Genbaum mit dem Arten-Baum deckungsgleich. Die Arbeitsgruppe von Ebersberger hat eine effiziente und sehr spezifische Methode entwickelt, und die sehr rechenaufwändige Identifizierung aller orthologer Sequenzen in den Gen-Repertoires heutiger Arten abzukürzen.

 

Zu den ersten Sequenzen, die für eine solche Analyse verwendet wurden, gehören ribosomale RNAs. Sie wurden ausgewählt, weil sie in allen Organismen vorkommen. „Leider erhält man aus Analysen unterschiedlicher, aber prinzipiell genauso geeigneter Gene nachgerade einen ganzen Wald verschiedener Lebens-Bäume“, bedauert Ebersberger. Dafür sind unter anderem Gen-spezifische Besonderheiten verantwortlich. Um deren Einfluss zu minimieren, analysiert seine Gruppe Hunderte verschiedene Gene. „Gelingt es dann noch, konsistente Verwandtschaftsverhältnisse aus der Analyse unterschiedlicher Datensätze zu rekonstruieren, hat man sein Möglichstes getan, Evolution korrekt zu messen und zu interpretieren“, schließt Ebersberger. „Bleiben die Bäume allerdings unterschiedlich, sollte man beginnen, die Hypothese eines einzelnen alles erklärenden Baums selbst zu hinterfragen.“

 

Um nun herauszufinden, inwieweit die an Modellorganismen gewonnen Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar sind, ist nicht nur der genetische Verwandschaftsgrad wichtig. Zusätzlich muss eine ähnliche Funktionalität der Gene gesichert sein. Dazu Ebersberger: „Verwandte Gene haben zwar eine höhere Wahrscheinlichkeit, das Gleiche zu tun, aber sicher ist es nicht. Als Bioinformatiker hat man keine Möglichkeit einer experimentellen Verifizierung. Wir benötigen also zusätzliche Gemeinsamkeiten, etwa bei funktionellen Protein-Domänen.“ Diese werden zusammen mit Strukturmerkmalen und gleichen lokalen Veränderungen der Sequenzkomposition zu einer Merkmals-Architektur zusammengefasst. Je ähnlicher diese bei verwandten Proteinen ist, desto wahrscheinicher ist deren funktionelle Äquivalenz.

 

Exemplarisch hat die Gruppe von Ebersberger eine solche Analyse für 255 Proteine durchgeführt, die bei der Hefe (Saccharomyces cerevisiae) den Aufbau von Ribosomen gewährleisten. So konnte er eine Brücke schlagen, die es erlaubt, Erkenntnisse aus funktionellen Studien in einem Modellorganismus auf eine beliebige andere Art zu übertragen. „Wie jede Brücke sollte allerdings auch diese nur mit der gegebenen Vorsicht begangen werden“, warnt Ebersberger und fügt hinzu: „Ihre Stabilität hängt davon ab, ob exakt gemessen wurde, ob Modell-Annahmen gültig waren und ob letztlich richtig interpretiert wurde.“

 

INFO:

 

Die aktuelle Ausgabe von „Forschung Frankfurt“ kann kostenlos bestellt werden: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.

 

Informationen: Prof. Ingo Ebersberger, Institut für Zellbiologie und Neurowissenschaft, Campus Riedberg, Tel.: (069) 798-42112, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!