Macht das Wuppertaler Tanztheater Pina Bausch einen Neuanfang?

 

Hanswerner Kruse

 

Wuppertal (Welexpresso) - Mit einem frühen und einem späten Werk der vor sechs Jahren gestorbenen Choreografin Pina Bausch ging das Wuppertaler Tanztheater in die Sommerpause. Die nächste Spielzeit beginnt zum ersten Mal in dessen 40-jähriger Geschichte mit "Neuen Stücken" einiger Gastchoreografen - doch ein „Neuanfang“ des berühmten Ensembles ist das nicht!

 

Nur eine Tänzerin steht auf der Bühne, zeigt sich von allen Seiten, bleckt die Zähne, streift die Haare zurück. Weitere Frauen kommen, bald lässt sich das ganze weibliche Ensemble taxieren. Dann verwandeln die Männer durch Vervielfachung und Übertreibung alltäglicher Verhaltensweisen die Bühne in einen grotesken „Kontakthof“. Der Name des Stückes ist sein Inhalt - was tun Menschen alles, um zu gefallen, um jemanden zu finden, um nicht einsam zu sein? Dieses Beziehungsthema, das in zahllosen assoziativen Szenen mal verzweifelt, mal humorvoll umkreist wird, hat heute nichts von seiner Aktualität verloren.

 

Es war ein Skandal, als Pina mit diesem Stück vor fast vier Jahrzehnten formal und inhaltlich das klassische Ballett und den Modern Dance infrage stellte. „Mich interessiert nicht, wie die Menschen sich bewegen, sondern was sie bewegt“, meinte die Choreografin. Sie wollte den Tanz nicht revolutionieren, aber sie suchte gemeinsam mit ihrem Ensemble nach neuen, lebensnahen Ausdrucksformen. Viele alt gewordene Akteure sind in diesem Stück seit zwanzig Jahren oder länger dabei, nur wenige sind unter vierzig. Pina hat dieses zeitlose Werk einige Jahre vor ihrem Tod zunächst mit älteren Laien über 65 inszeniert, später sogar mit Teenies.

 

Auch „Vollmond“ beginnt mit skurrilen Wettkämpfen im Alltag, leidenschaftliche und expressive Tänze kommen dazu. Das Ensemble ist altersmäßig sehr gemischt, die Jungen sind athletisch und schnell, die Älteren ausdrucksvoller und oft komisch. Die Solotänze sind individuell und klischeefrei, haben ihre Wurzeln im deutschen Ausdruckstanz und zeigen intensive Gefühle: Erschöpfung, Glück, Einsamkeit...

 

Die Bühne steht unter Wasser, immer wieder lassen sich die Akteure im Fluss am Bühnenende treiben oder stehen im Regen. Die nassen Menschen wirken sinnlich und schutzbedürftig zugleich: „Tanz kann alles sein!“, erklärte Pina. Zwischen „Kontakthof“ und „Vollmond“ liegen knapp drei Jahrzehnte. Der „Vollmond“, der alle irre macht, war der Höhepunkt in Pinas Schaffen, in ihm ist alles vereint, was die Choreografin mit ihrer Compagnie suchte. Alle Bausch-Stücke entwickelten sich aus den vorausgegangenen, es gibt keine „guten“ oder „schlechten“ Arbeiten. Pina selbst hatte ihre Wiederaufnahmen sehr genau rekonstruiert, selbst wenn die Akteure wechselten. „Vollmond“ ist - nebenbei bemerkt - auch ein großartiges Beispiel für das Zusammenwirken junger und alter Tänzerinnen und Tänzer.

 

In Wuppertal ist heute keine lähmende Ehrfurcht vor Pinas Werk zu spüren, sondern eine ungeheure Lust ihr Erbe zu erhalten und weiterzuführen. 1200 junge Tänzerinnen und Tänzer haben sich für sechs freie Stellen in der Compagnie beworben, die in der neuen Spielzeit auf 35 Personen aufgestockt wird. Vier Gastchoreografen werden im September mit dem Ensemble einen mehrteiligen Tanzabend inszenieren. „Es ist nur ein kleiner Versuch“, spielt eine Sprecherin des Hauses das Projekt herunter. Die Choreografen unterschiedlicher Tanz-Provenienz sind nicht sehr bekannt oder außergewöhnlich. Von ihnen ist - dem altägyptischen Tanzgott „Aha“ sei Dank - kein radikaler Neuanfang zu befürchten.

 

So bleibt uns - angesichts viel postmoderner Beliebigkeit oder inhaltsleerer Perfektion im zeitgenössischen Tanz - das nach wie vor einzigartige Werk Pinas erhalten. In Wuppertal und bei Gastspielen in aller Welt sind die Vorstellungen stets ausverkauft und werden auch von jungen Zuschauern bejubelt.

 

INFO:

Briefmarke: Die Deutsche Post hat soeben eine Sondermarke für Pina Bausch heraus gegeben, denn in diesen Tagen wäre die 2009 gestorbene Choreografin 75 Jahre alt geworden.

Termine: „Neue Stücke“ am 18., 19., 20., 22., 23., 24. September 2015. Außerdem werden Arbeiten wie „Nelken“, „Agua“ oder „Der Fensterputzer“ wieder inszeniert.

www.pina-bausch.de

 

Diese vier Gastchoreografen erarbeiten einen dreiteiligen Tanzabend mit dem Wuppertaler Ensemble:

Der Brite Tim Etchells - Schriftsteller, Regisseur und Performer - erkundet spielerisch und sehr poetisch widersprüchliche Aspekte von Sprache. Er ist fasziniert von Sprachregeln und -systemen und arbeitet mit Performern ausgehend von Texten, die im Laufe des Prozesses entstehen. 

Cecilia Bengolea und François Chaignaud schöpfen aus Unterschieden: Die Argentinierin Bengolea verbindet Elemente der Clubkultur wie Twerking und Dubsteps mit Einflüssen jamaikanischer Tanzhallen. Der klassische Tänzer Chaignaud aus Frankreich geht von historischen Bezügen aus und setzt den Fokus auf „vokale Polyphonien.“ 

Theo Clinkard (GB) hat mit vielen Ensembles gearbeitet. Er interessiert sich für das  kommunikative Potential des Körpers und will sichtbar machen, wie Tanz Empathien zwischen den Tänzern untereinander oder zum Publikum schaffen kann.

 

Foto: Filmfoto aus „Pina“