Hintergrund zur Serie: FLÜCHTLINGSGESPRÄCHE, Teil 16 c

 

Hanswerner Kruse

Schlüchtern (Weltexpresso) - Die Autorin ist die Tochter des ersten, von der Verbrecherbande NSU ermordeten Menschen.Semiya Simseks (29) vor über zwei Jahren erschienene „Schmerzliche Heimat“ aus dem Rowohlt Verlag ist ein großartiges, sehr persönliches Buch und weder eine verbitterte Anklage noch ein dröges Sachbuch!



Ihr Prolog, „Meine schlimmste Nacht“, zieht den Leser sofort in den Bann, weil Semiya offen über ihre Gefühle als 14jährige nach dem Mord berichtet. Bildhaft erzählt sie in Rückblenden von der wunderbaren türkischen Landschaft „voller Farben und Düfte“, in der ihr Vater einst lebte. „Das erste Kind der Familie auf deutschem Boden“ schreibt über die Fremdheit des Vaters in Deutschland, die Liebesgeschichte der Eltern und gibt Einblicke in das Alltagsleben einer liberalen türkisch-deutschen Großfamilie.



Semiya und ihr Bruder wachsen glücklich in Flieden bei Fulda in einer multikulturellen Umgebung mit Deutschen, Italienern, Türken auf. Fremdenfeindlichkeit erleben sie weder hier noch später in Schlüchtern, nachdem sie dorthin ziehen, weil der väterliche Blumenhandel enorm prosperiert. Der Preis für „Eine deutsche Karriere“, wie Semiya die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte ihres Vaters nennt, ist dessen 80stündige Arbeitswoche. Den Workaholic verklärt die Tochter nicht, sie meint sogar augenzwinkernd, dass er steuerlich nicht immer korrekt handelte.

 

Kurz bevor Enver Simsek die Firma verkaufen und sich mehr um seine Familie kümmern will, wird er brutal in Nürnberg ermordet. Nun beginnt der zweite Teil des Buches, spannend wie ein Krimi, obwohl das Ende ja bekannt ist. Alle in der weit verzweigten Familie sind voller Leid, aber die Hinterbliebenen dürfen nicht Opfer sein. Von Anfang an werden die Angehörigen mit abstrusen Konstruktionen zu Hauptverdächtigen und über Monate hinweg von der Polizei mit langen Verhören, Hausdurchsuchungen, Drohungen und Lügen (Enver habe eine Geliebte und zwei Kinder) heimgesucht.

 

Als weitere türkische Migranten ermordet werden, verändern sich nicht der Druck auf die Familie sondern nur die forensischen Fantasien der Polizei. „Die Ermittler wurden noch entschlossener“, der Ermordete wird jetzt zum Rauschgifthändler, später als Rechtsradikaler der türkischen „Grauen Wölfe“ stilisiert. Die Polizei bedrängt weiter die Simseks, die „Verdachtsmaschinerie“ ist unerbittlich. Indes gibt es keine Beweise für die Beschuldigungen, Lügen dubioser Zeugen werden erst Jahre später überprüft und als Unsinn entlarvt. Der von wenigen Profilern oder den Opferfamilien geäußerte Verdacht, die Täter könnten Fremdenhasser sein, werden als unrealistisch abgetan.

 

Die Zeit vergeht, Semiya macht ihr Abitur, studiert, beginnt zu arbeiten. „Wir lebten weiter. Es ist vorbei.“ Doch dann werden die Morde plötzlich als rechtsradikale Terrortaten aufgeklärt. Von bisher „halben Tätern wurden wir nun zu guten Opfern“, schreibt sie, doch sie ist voller Angst: Wie groß mag der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) noch sein? Sie empört sich, als die Schlampereien der Ermittler und die dubiosen Vorgänge beim Verfassungsschutz ans Licht kommen.

 

Semiya will nicht länger Opfer sein, sie hält eine ergreifende Rede in der zentralen Gedenkfeier der Bundesregierung, bei der Kanzlerin Angela Merkel erklärt: „Einige Opfer standen selbst jahrelang zu Unrecht unter Verdacht. Das ist besonders beklemmend. Dafür bitte ich Sie um Verzeihung!“ Im NSU-Prozess in München will sie als aktive Nebenklägerin auftreten: „Im Gerichtssaal werde ich Beate Zschäpe gegenübertreten. Das wird für mich sicher ein schwieriger Moment sein, aber mein Bedürfnis nach Aufklärung ist größer als meine Angst.“

 

Semiya Simsek ist nicht verbittert, auch wenn sie nach ihrer Heirat als Fremde in die Türkei geht, um dort ihr Kind zur Welt zu bringen. Jedoch ist das kein Abschied für immer, sie ist weiterhin Deutsche: „Es käme mir nie in den Sinn, mich von diesem Land loszusagen!“

 

Als wir mit ihrer Cousine sprachen, zeigt diese uns Bilder von Dreharbeiten in ihrem Heimatdorf, die ihr Semiya gerade schickte. Die ARD dreht die dreiteilige Serie „Vergesst mich nicht“ über den Mord an Enver Şimsek. Der erste Teil zeigt die Gründung der Mörderbande in Thüringen, dem zweiten, gerade abgedrehten Teil liegt das Buch Semiyas zugrunde. Der Schluss der Trilogie wird im Herbst gedreht und widmet sich der Aufklärung der Verbrechen. Der Termin für die TV-Ausstrahlung steht noch nicht fest.

 

INFO:

Semiya Simsek mit Peter Schwarz, „Schmerzliche Heimat“, Rowohlt-Verlag Berlin 2013, Gebunden 272 Seiten, 18,95 EUR / Digitalbuch, 16,99 EUR

 

 

Interview mit Fadime

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php?option=com_content&view=article&id=5266:fadime-aus-der-tuerkei&catid=88&Itemid=497

 

und weiterer Artikel

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php?option=com_content&view=article&id=5278:fadime-simsek-zum-mord-an-ihrem-onkel&catid=88&Itemid=497