Serie: 50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess. Ein anteilnehmender Journalist berichtet.Teil 5/5

 

Kurt Nelhiebel

 

Bremen (Weltexpresso) - Zyniker sagen, Hans Globkes Tätigkeit als Staatssekretär im Bundeskanzleramt habe der Demokratie nicht geschadet. Schließlich hätten sich doch alle vom Ungeist des Nazismus distanziert. In der Tat, an solchen Bekundungen hat es nicht gemangelt. Stets wurde versichert, die Bekämpfung des Neonazismus und Rechtsextremismus gehöre, wie die Bekämpfung des Linksextremismus, zu den entscheidenden Lehren der Vergangenheit.

 

Unbußfertige Verschwörung des Nichtwissens“

 

In Wirklichkeit hatten Politik, Polizei und Justiz hauptsächlich die Linken im Visier, die aktivsten Gegnern Hitlers, deren Widerstand gegen die Wiederbewaffnung und die Notstandsgesetze als Widerstand gegen den Rechtsstaat gedeutet und deren Verdienste im Kampf gegen den nazistischen Unrechtsstaat ignoriert wurden. Resigniert bemerkte Fritz Bauer nach dem Auschwitz-Prozess, die von ihm angestrebte Aufklärung habe nicht stattgefunden. Die „unbußfertige Verschwörung des allgemeinen Nichtwissens”, die er bei den Angeklagten beobachte hatte, beschränkte sich nach seiner tiefen Überzeugung nicht auf den Kreis der unmittelbar an den NS-Verbrechen Beteiligten; er hielt sie für ein verbreitetes Phänomen, gepaart mit Versuchen, die Naziverbrechen zu relativieren.

 

1983 appellierte der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, Alfred Dregger, an die Deutschen, aus dem Schatten Hitlers herauszutreten und normal zu werden. 1986 fragte der Historiker Ernst Nolte, ob der „Archipel Gulag”, also das Verbannungssystem unter Stalin, nicht „ursprünglicher als Auschwitz” gewesen sei. 1998 wandte sich der Schriftsteller Martin Walser in seiner Paulskirchenrede dagegen, Auschwitz als „Moralkeule“ zu benutzen, woraufhin ihm die versammelte deutschen Créme de la Créme am Schluss stehend eine Ovation bereitete – mit Ausnahme von Ignatz Bubis; der Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland blieb als Einziger sitzen. 1999 rechtfertigte der grüne Außenminister Joschka Fischer die deutsche Teilnahme am völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen Jugoslawien mit dem Satz, er habe nicht nur „Nie wieder Krieg”, sondern auch „Nie wieder Auschwitz” gelernt, so als hätten auf dem Balkan Gaskammern und Verbrennungsöfen verhindert werden müssen. 2006, also vor seiner Zeit als Bundespräsident, bezeichnete Joachim Gauck den Massenmord an den Juden als rational einzuordnendes Phänomen der modernen Zivilisation. Neun Jahre später sagte derselbe Joachim Gauck, es gebe keine deutsche Identität ohne Auschwitz, und am 70. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Faschismus verkündete der Historiker Heinrich August Winkler im Bundestag ganz im Sinne Alfred Dreggers, die Deutschen dürften sich „durch die Betrachtung ihrer Geschichte nicht lähmen lassen“.

 

 

Schlussstrichdenken hat gesiegt

 

Alles nur Einzelmeinungen? Alles nur Einzelfälle? Ja, alles nur Einzelfälle, aber sie ergeben wie Mosaiksteinchen ein Gesamtbild, das nachdenklich stimmt. Die nach der deutschen Vereinigung erhobene Forderung von Jürgen Habermas, die „klammheimlichen Phantasien von der neu-alten europäischen Großmacht Deutschland“ sollten endlich öffentlich diskutiert werden, wird heute nur noch milde belächelt. Niemand in der SPD stört sich auch nur im geringsten an der Aussage Rudolf Scharpings, er halte es für ein „konservatives Symbol“, wenn gefordert werde, die Deutschen müssten endlich, wie alle anderen auch, überall auf der Welt militärisch intervenieren können. „Das wollen wir nicht mitmachen.“

 

Entgegen allen Beteuerungen, dass es einen Schlussstrich unter die Vergangenheit niemals geben werde, dominiert das Schlussstrichdenken längst die politische Wirklichkeit. Den Weg dahin haben die westlichen Alliierten geebnet. Sie brauchten die Deutschen, die eben noch für Hitler geschwärmt hatten, als Verbündete im Kampf gegen den ehemaligen Kriegsverbündeten im Osten, begnadigten vorzeitig verurteilte Naziverbrecher und ließen die ursprünglich für notwendig gehaltene Entnazifizierung zur Farce verkommen Andere drückten beide Augen zu, zahlten die Deutschen doch am meisten in die gemeinsame europäische Kasse und entlasteten damit die Haushalte der Nachbarn.

 

Die offiziellen Gedenkrituale, die den Opfern der Nazityrannei gewidmet sind, den deutschen Widerstand gegen Hitler wegen des hohen Anteils der Kommunisten aber ausklammern, haben mit der politischen Wirklichkeit nichts zu tun. Der Welt wird nach dem deutschen Wirtschaftswunder ein deutsches Vergangenheitsbewältigungswunder präsentiert, stünden da nicht die prophetischen Worte des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi im Raum: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“

 

Mit dem Auschwitz-Prozess wollte Fritz Bauer dem Vergessen einen Riegel vorschieben. Wenige Wochen nach Beginn der Hauptverhandlung mahnte er: „Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden. Nichts ist, wie man zu sagen pflegt, bewältigt, mag auch die Öffentlichkeit sich gerne in dem Glauben wiegen, dass ihr zu tun fast nichts mehr übrig bleibe.“ Für Alfred Dregger war das „törichtes Gerede“. Wer sich all das bewusst macht, für den klingt die Beteuerung des Bundespräsidenten Joachim Gauck, „Wir werden nicht zulassen, dass das Wissen um die besondere historische Verantwortung Deutschlands verblasst“, ziemlich hohl.

 

Alles paletti?