50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess. Ein zeitgenössischer Bericht. Teil 1/2

 

Conrad Taler/Kurt Nelhiebel

 

Bremen (Weltexpresso) - Es gibt nicht mehr viele Menschen, die den Auschwitz-Prozess miterlebt und darüber geschrieben haben. Conrad Taler, der mit bürgerlichem Namen Kurt Nelhiebel heißt und den Lesern von "Weltexpresso" kein Unbekannter ist, gehört zu ihnen. Zum 50. Jahrestag der Verkündung des Urteils in dem Jahrhundertverfahren am 19. August 1965 erschien sein Buch mit dem Titel "Asche auf vereisten Wegen" in einer aktualisierten und erweiterten Neuauflage.

 

Darin enthalten sind seine Prozeßberichte, die er für eine jüdische Zeitung in Wien geschrieben hat, so wie unter anderem ein Rückblick auf das inzwischen vergangene halbe Jahrhundert. Der dienstälteste Generalbundesanwalt der Bundesrepublik, Erardo C. Rautenberg, hat dazu ein Vorwort geschrieben. Einblick in das Leben des Initiators des Auschwitz-Prozesses, Fritz Bauer, gibt seine Biografin Irmtrud Wojak.

Als Conrad Talers Berichte über den Auschwitz-Prozess erstmals in Buchform erschienen, erntete er höchstes Lob. Marcel Atze vom Fritz-Bauer-Institut schrieb im institutseigenen Newsletter Nr. 25 (2003) :  "Die Berichte von Conrad Taler sind außerordentlich lesenswert, weil der Autor eine brillante Beobachtungsgabe besitzt und weil ihn eine ungeheure Auditivität auszeichnet. Talers Buch ist jedem zu empfehlen, der sich rasch über den Verlauf des Auschwitzprozesses, über dessen Höhepunkte und die im Gerichtssaal ausgetragenen Konflikte ein Bild machen möchte. Jeder wird zudem durch Conrad Talers außerordentliches sprachliches Darstellungsvermögen belohnt.”

2014 wurde Kurt Nelhiebel für sein publizistisches Lebenswerk mit dem Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon in Bremen geehrt. Nachfolgend sein Abschlußbericht vom Auschwitz-Prozess. Die Redaktion

 

Das Urteil

 

Dieser 19. August des Jahres 1965 ist ein Tag wie jeder andere auch. Durch die Riesenstadt wälzt sich der Verkehr, Autoschlangen stauen sich an Ampeln, Trambahnen schieben sich durch das Gewühl, auf den Gehsteigen hasten die Menschen zur Arbeit, und auf dem Schulhof neben dem Gallushaus lärmen vor Unterrichtsbeginn die Kinder. Und doch ist dies ein besonderer Tag, denn inmitten dieser Stadt wird heute das Urteil in einem Verfahren verkündet, das in der Geschichte ohne Beispiel ist - der Auschwitzprozess.

 

Die Vorhänge an den wandhohen Fenstern des Verhandlungssaales im Gallushaus sind zugezogen, so, als störe das Tageslicht an diesem Morgen, da die Weltöffentlichkeit erfahren soll, welche Strafe auf die 20 verbliebenen Angeklagten wartet. Kalter Schein aus Neonröhren erhellt die Szenerie. Auf der Pressetribüne drängen sich Journalisten aus vielen Ländern. Eine gespannte, nervöse Atmosphäre breitet sich aus.

 

Die Angeklagten werden hereingeführt; als erster wie immer der hinkende frühere Arrestverwalter im Todesblock 11, Bruno S c h l a g e . Der „schwarze Tod” von Auschwitz, Wilhelm B o g e r , trägt wie immer den Anflug eines Lächelns im harten Gesicht, während er sich auf seinem Platz niederlässt. Es reicht noch zu einem kurzem Gespräch mit den Verteidigern, dann betreten die Richter den Saal. Die Anwesenden erheben sich und wie an 181 Tagen davor hören sie aus dem Mund des Gerichtsvorsitzenden H o f m e y e r die beiden Sätze: „Die Sitzung des Schwurgerichts beim Landgericht in Frankfurt am Main ist eröffnet. Zum Aufruf kommt die Strafsache gegen Mulka und andere.”

 

Doch Sekunden später ist alles anders. Bleischwer lastet die Stille vor den nächsten Worten in dem großen Raum. „Es wird folgendes Urteil verkündet: Im Namen des Volkes ...” Als erster hört Robert M u l k a , dass er für schuldig befunden wurde und zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt wird. Mit brüchiger Stimme, der man die nervliche Belastung anmerkt, verliest Hofmeyer das Strafmaß für die 19 anderen Angeklagten. Unterdessen stürzen die ersten Journalisten aus dem Saal hinaus an die Telefone und Fernschreiber, um ihren Redaktionen die ersten Informationen zu übermitteln. Wenig später künden bei Rundfunkstationen und Zeitungen Klingelzeichen an den Fernschreibern Vorrang- und Eilmeldungen an.

 

Sechsmal lebenslanges Zuchthaus, elfmal begrenzte Freiheitsstrafen zwischen dreieinviertel und 14 Jahren und dreimal Freispruch - das ist in dürren Worten die Bilanz dieses Prozesses.

 

Ehe der Vorsitzende jedes einzelne Urteil begründete - insgesamt vergingen darüber zwei Tage - gab er einen Überblick über alle Argumente und Gegenargumente, die während der vergangenen 20 Monate aufgetaucht sind. Es sei verständlich, sagte er, dass in dieses Verfahren der Wunsch hineingetragen worden sei, die Grundlagen zu einer umfassenden geschichtlichen Darstellung des Zeitgeschehens zu schaffen, das zur Katastrophe von Auschwitz geführt habe. Hofmeyer deutete an, dass diesem Verlangen durch zahlreiche Gutachten über das Bild der geistigen, politischen und rechtsphilosophischen Situation während des „Dritten Reiches” Rechnung getragen worden sei.

 

Gleichzeitig betonte er jedoch, dass sich das Gericht durch die Vielzahl der daraus resultierenden Fragen nicht habe in Versuchung bringen lassen dürfen, den ihm vom Gesetz vorgeschriebenen Weg zu verlassen und sich auf Gebiete zu begeben, die ihm verschlossen seien. In den Strafverfahren gegen Mulka und andere habe es einzig darum gehen können, die Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft gegen die 20 Angeklagten zu überprüfen und das Maß der Schuld des einzelnen zu erforschen. „Das Gericht war nicht berufen, die Vergangenheit zu bewältigen”, fuhr der Vorsitzende fort. „Es hatte nicht zu prüfen, ob dieser Prozess zweckmäßig war oder nicht. Das Schwurgericht konnte nicht einen politischen Prozess führen, schon garnicht einen Schauprozess. Ich muss in diesem Zusammenhang mein Bedauern darüber aussprechen, dass dieses Wort übrhaupt gefallen ist.”

 

Anschließend setzte Hofmeyer sich mit dem Einwand auseinander, dass hier nur die „kleinen Leute” vor Gericht gestanden hätten. Auch diese „kleinen Leute” seien damals nötig gewesen, um den Plan der Vernichtung von Menschen in Auschwitz auszuführen. Sie seien so nötig gewesen, wie die Großen, die das Gesamtgeschehen eingeleitet und von Schreibtisch aus kontrolliert hätten. Die meisten von ihnen seien nicht mehr am Leben. Aufgabe des Gerichts sei es gewesen, die k r i m i n e l l e S c h u l d im Sinne des Strafgesetzbuches zu ermitteln. Als irrig bezeichnete der Vorsitzende die Auffassung mancher Verteidiger, der Staat könne nicht bestrafen, was er in einer anderen Geschichtsphase befohlen habe. Seit Bestehen des Deutschen Reiches, also seit 1871, hätten die Strafgesetze Mord immer unter Strafe gestellt. Auch die Machtfülle des Nationalsozialismus habe niemals ausgereicht, aus Unrecht Recht zu machen

 

Bei der Würdigung der Zeugenaussagen kam Hofmeyer zu dem Ergebnis, dass jeder Mensch nach 20 Jahren Erinnerungsschwächen unterworfen sei. Deshalb habe das Gericht alles vermieden, was auch nur im entferntesten auf eine summarische Entscheidung hätte hindeuten können. Jede Aussage sei einzeln geprüft worden, und wenn eine nicht ganz stichhaltig gewesen sei, dann habe zugunsten des Angeklagten auf sie verzichtet werden müssen. Wegen der Beweisschwierigkeiten hätten nicht alle strafbaren Handlungen nachgewiesen werden können. Den Angeklagten warf der Senatspräsident vor, n i c h t s zur Erforschung der Wahrheit beigetragen, sondern geschwiegen und zum Teil die Unwahrheit gesagt zu haben.

Fortsetzung folgt.

 

 

Info:

 

Entnommen mit ausdrücklicher Zustimmung des Autors seinem am 22. September 1965 veröffentlichten Bericht DAS URTEIL, das auf den Seiten 105 bis 111 im unteren Buch, das im Jahr 2003 erstmals erschien, abgedruckt ist.

 

Conrad Taler, Asche auf vereisten Wegen, PapyRossa Verlag, 170 Seiten, 13,90 Euro

 

Anmerkung zum Titel des Buches von Conrad Taler „Asche auf vereisten Wegen“

Er beruht auf der Aussage des Zeugen Jehuda B a c o n, er habe in Auschwitz zusammen mit anderen Lagerinsassen Asche von vergasten und dann verbrannten Opfern auf die vereisten Wege streuen müssen.