50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess. Ein zeitgenössischer Bericht, Teil 2/2

 

Conrad Taler/Kurt Nelhiebel

 

Bremen (Weltexpresso) - Im letzten Satz der Urteilsbegründung findet sich ein Anflug von Resignation. Er besagt: die vorhandenen Gesetze reichen nicht aus, um die Verbrechen von Auschwitz zu sühnen. Wörtlich: „Selbst wenn in allen Fällen die Angeklagten wegen Mittäterschaft zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt würden, würde ein Division dieser Strafe durch die Anzahl der Opfer niemals auch nur zu einer annähernd gerechten Sühne führen; dazu ist ein Menschenleben viel zu kurz.”

 

Die Angeklagten nahmen das Urteil ohne Zeichen einer Gemütsregung entgegen. Nur der „Phenolspezialist” K l e h r sprang auf und rief in den Saal: „Herr Präsident, ich nehme das Urteil nicht an.” Die Angeklagten hatten geraume Zeit vor der Urteilsverkündung Gelegenheit, Erklärungen zum Prozessverlauf abzugeben. Nur zwei von ihnen, S t a r k und L u c a s , ließen in ihrem Schlusswort einen Schimmer von Reue erkennen. Alle anderen verloren weder ein Wort des Bedauerns für die Opfer von Auschwitz, noch gaben sie auch nur ein einziges Verbrechen zu. Die meisten zeigten nur Mitleid mit sich selbst. Mulka drohte bei seinem Schlusswort fast in Tränen auszubrechen während Boger den strammen Antikommunisten hervorkehrte und versicherte, im Mittelpunkt seiner Bestrebungen habe stets die Bekämpfung der polnischen Widerstandsbewegung und des Bolschewismus gestanden.

 

 

Im Einzelnen wurden verurteilt:

 

Z u l e b e n s l a n g e m Z u c h t h a u s :

 

Wilhelm B o g e r , wegen Mordes in mindestens 114 Fällen und der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an mindestens 1 000 Menschen sowie einer weiteren gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an mindestens zehn Menschen.

 

Franz H o f m a n n, wegen Mordes in einem Fall, des gemeinschaftlichen Mordes in mindestens 30 Fällen, sowie wegen gemeinschaftlichen Mordes in mindestens drei weiteren Fällen an je mindestens 750 Menschen.

 

Oswald K a d u k , wegen Mordes in zehn Fällen und gemeinschaftlichen Mordes in mindestens zwei Fällen, begangen in einem Fall an mindestens 1 000, in dem anderen an mindestens zwei Menschen.

 

Stefan B a r e t z k i , wegen Mordes in mindestens fünf Fällen sowie gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens elf Fällen, davon in einem Fall begangen an mindestens 3 000 Menschen, in fünf Fällen begangen an mindestens je 1 000 Menschen und in fünf Fällen begangen an mindestens je 50 Menschen.

 

Josef K l e h r , wegen Mordes in mindestens 475 Fällen und gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens sechs Fällen, davon in zwei Fällen begangen an mindestens je 750 Menschen, im dritten Falle an mindestens 280 Menschen, im vierten Falle an mindestens 700 Menschen, im fünften Falle an mindestens 200 Menschen und im sechsten Falle am mindestens 50 Menschen.

 

Emil B e d a n a r e k , wegen Mordes in 14 Fällen.

 

 

Zu begrenzten Freiheitsstrafen

 

Robert M u l k a , 14 Jahre Zuchthaus wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens vier Fällen an mindestens je 750 Menschen.

 

Karl H ö c k e r , sieben Jahre Zuchthaus wegen gemeinschaftlicher Behilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens drei Fällen an mindestens je 1 000 Menschen.

 

Hans S t a r k , zehn Jahre Jugendstrafe wegen gemeinschaftlichen Mordes in mindestens 44 Fällen, davon in einem Fall begangen an mindestens 200 Menschen und in einem weiteren Fall an mindestens 100 Menschen. ( Stark war zur Tatzeit noch nicht volljährig ).

 

Klaus D y l e w s k i , fünf Jahre Zuchthaus wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens 32 Fällen, davon in zwei Fällen begangen an mindestens je 750 Menschen.

 

Pery B r o a d , vier Jahre Zuchthaus wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens 22 Fällen, davon in zwei Fällen begangen an mindestens je 1 000 Menschen.

 

Bruno S c h l a g e , sechs Jahre Zuchthause wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens 80 Fällen.

 

Dr. Franz L u c a s , drei Jahre und drei Monate Zuchthaus wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens vier Fällen und an mindestens je 1 000 Menschen.

 

Dr. Willy F r a n k , sieben Jahre Zuchthaus wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens sechs Fällen an mindestens je 1 000 Menschen.

 

Dr. Victor C a p e s i u s , neun Jahre Zuchthaus wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens vier Fällen an mindestens je 2 000 Menschen.

 

Herbert S c h e r p e , vier Jahre und sechs Monate Zuchthaus wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens 200 Fällen und einer weiteren gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an mindestens 700 Menschen.

 

Emil H a n t l , drei Jahre und sechs Monate Zuchthaus wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mindestens 40 Fällen und der gemeinschaftlichen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in zwei weiteren Fällen an mindestens je 170 Menschen. (Da die Untersuchungshaft voll angerechnet wurde, konnte Hantl den Gerichtssaal nach der Urteilsverkündung als freier Mann verlassen; seine Strafe gilt als verbüßt).

 

 

Freisprüche

 

Auf Kosten der Staatskasse wegen Mangels an Beweisen freigesprochen: Dr. Willi S c h a t z , Arthur B r e i t w i e s e r und Johann S c h o b e r t h.

 

 

 

Bei den Tötungshandlungen, deren die Angeklagten für schuldig befunden wurden, handelt es sich um so genannte individuelle Morde durch Tottrampeln, Ertränken, Erschießen oder sonstige Gewaltanwendung, um Massenerschießungen an der Schwarzen Wand, um vorausgegangenen sogenannte Bunkerentleerungen, um Mord mit der Phenolspritze, um Selektionen auf der Rampe oder Morde in den Gaskammern.

 

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Das größte Verfahren der deutschen Justizgeschichte ist zu Ende. Es erstreckte sich über 20 Monate und 183 Verhandlungstage, 356 Zeugen traten vor das Gericht, die Hälfte von ihnen stammen aus Deutschland, die anderen aus weiteren 17 Ländern. Die schriftlichen Unterlagen über das Prozessgeschehen füllen 100 Aktenbände mit insgesamt 18.000 Seiten.

 

Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft gegen acht Urteile Revision eingelegt, und zwar in den Fällen Mulka, Höcker, Capesius, Dylewski, Broad, Stark, Schlage und Dr. Schatz. Der Nebenklagevertreter Kaul (Ostberlin) legte seinerseits Revision gegen die Urteile über Mulka und Höcker ein. Revision legten auch zehn Verteidiger ein.

 

*

 

Das Echo auf die Urteile ist unterschiedlich ausgefallen. Es gab scharfe Kritik und zustimmende Äußerungen; den einen sind die meisten Strafen zu gering, den anderen erscheinen sie als gerecht. Vielleicht erwarten die Leser auch von mir, der ich für sie die ganze Zeit über vom Auschwitzprozess berichtet habe, ein persönliches Wort. Ich will es kurz machen:

 

Für die Verbrechen von Auschwitz g i b t es keine adäquate Sühne. Selbst wenn alle Angeklagten die Höchststrafe bekommen hätten - lebenslanges Zuchthaus - bestünde das Unbehagen weiter, dass Auschwitz letztlich ungesühnt bleibt. Das Gericht stand vor einer unlösbaren Aufgabe. Es musste mit den unzureichenden Mitteln des Strafgesetzbuches aus einem Riesenberg von Schuld den persönlichen Anteil der Angeklagten an den begangenen Verbrechen herausfinden. Dabei sind, so will mir scheinen, die höheren Chargen besser weggekommen als die unteren. Der ehemalige SS-Führer Dr .Lucas beispielsweise erhielt wegen Beihilfe zum Mord in mindestens v i e r t a u s e n d Fällen nur d r e i Jahre und drei Monate Zuchthaus, während der ehemalige Arrestaufsehen Schlage wegen Beihilfe zum Mord in mindestens a c h t z i g Fällen s e c h s Jahre Zuchthaus bekam, also fast doppelt so viel.

 

Aber solche Überlegungen führen wohl am Kern vorbei. So notwendig es gewesen wäre, gegen a l l e Angeklagten mit der ganzen Strenge des Gesetzes vorzugehen, so wenig hätte damit das Sühnebedürfnis befriedigt werden können. Trotz der milden Urteile hat dieses Verfahren ein Gutes: es hat die Nachwelt mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Der Jugend wurde vor Augen geführt, wo es endet, wenn politischer und völkischer Wahnwitz ins Kraut schießen. Sie ist gewarnt.

 

Der Auschwitzprozess hat Millionen zum Nachdenken gebracht. „Aber”, und damit zitiere ich aus dem Organ der deutschen Metallarbeiter-Gewerkschaft, „noch immer sitzen im Staats- und Polizeiapparat, in der Justiz und in jenen Konzernen, die in Auschwitz an den Arbeitssklaven verdienten, die eigentlichen Drahtzieher, die Stützen eines Systems, das im Auschwitzprozess - leider - nicht auf die Anklagebank gesetzt werden konnte.”

 

 

Info:

 

Entnommen mit ausdrücklicher Zustimmung des Autors seinem am 22. September 1965 veröffentlichten Bericht DAS URTEIL, das auf den Seiten 105 bis 111 im unteren Buch, das im Jahr 2003 erstmals erschien, abgedruckt ist.

 

Conrad Taler, Asche auf vereisten Wegen, PapyRossa Verlag, 170 Seiten, 13,90 Euro

 

Anmerkung zum Titel des Buches von Conrad Taler „Asche auf vereisten Wegen“

Er beruht auf der Aussage des Zeugen Jehuda B a c o n, er habe in Auschwitz zusammen mit anderen Lagerinsassen Asche von vergasten und dann verbrannten Opfern auf die vereisten Wege streuen müssen.