Zum Tod von Egon Bahr

 

Constanze Weinberg

 

München (Weltexpresso) - Jetzt ist auch er in die ewigen Jagdgründe eingegangen, der Architekt der neuen Ostpolitik von Willy Brandt, und alle, auch die, die ihm einst spinnefeind waren, werden heiße Tränen vergießen; denn ein toter Indianer ist ein gute Indianer.

 

Wandel durch Annäherung lautete die Forderung von Egon Bahr, mit der er die Politik der Stärke gegenüber dem Osten aber auch diesen selbst zu Fall brachte. Gnadenlos sind seine politischen Gegner mit ihm umgegangen, so gnadenlos, wie sie mit Willy Brand und mit Fritz Bauer umgegangen sind. Die Methode blieb über Jahrzehnte hinweg immer dieselbe. Dem jeweiligen Opfer wurde Komplizenschaft mit den Kommunisten unterstellt. Da bekamen die Deutschen noch immer eine Gänsehaut.

 

Bei Kaiser Wilhelm II. hieß es: „Wenn die Sozialdemokraten die Mehrheit erringen, so werden sie die Bürger und die Häuser plündern“. Die Nazis riefen: „Macht Deutschland vom Marxismus frei“. Und als in Bonn erstmals ein Sozialdemokrat zum Bundeskanzler gewählt wurde, machten seine Gegner ihn – wie das CSU-Organ Bayern-Kurier formulierte – zum „Erfüllungsgehilfen“ Moskaus. Brandt sei von „sowjetgläubigen Beratern“ umgeben, behauptete der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß. Egon Bahr sei Brandts „wahrer Außenminister“. Die „Welt am Sonntag“ schrieb, der Bundesnachrichtendienst besitze ein Tonband über geheime Gespräche Egon Bahrs mit der kommunistische SED in Ostberlin, was sich – wie „Der Spiegel“ damals höhnte, als „Bahrer Unsinn“ entpuppte.

 

Der CDU-Vorsitzende Kurt Georg Kiesinger sagte im Bundestag, auch er habe mit der Sowjetunion verhandelt, als er Kanzler gewesen sei. „Aber ich wollte nicht zum Befehlsempfang in Moskau erscheinen.“ Was er Willy Brandt damit unterstellte, war nicht zu überhören. Egon Bahr gehörte nach Meinung des „Bayern-Kuriers“ zu den „verwegenen Gestalten“, denen der Kanzler ausgeliefert zu sein scheine. Weil Moskau es wünsche, habe die „graue Kamarilla“ um die Galionsfigur Brandt die Unterschrift unter den Atomwaffensperrvertrag beschlossen. Egon Bahr gehöre zu denen, die die Kapitulation Deutschland wünschten. Strauß nannte den Vertrag, mit dem Deutschland für immer auf Atomwaffen verzichtete, ein „Versailles von kosmischen Ausmaßen.“ All das und noch vieles mehr ist nachgelesen in Conrad Talers „Rechts wo die Mitte ist“, erschienen 1972 bei S. Fischer.

 

Egon Bahr galt vielen als reiner Verstandesmensch, der ohne innere Regung seine Schlüsse zieht. Aber es gab auch einen anderen Bahr, den Gefühlsmenschen, wie alle im Fernsehen beobachten konnten, als er die Tränen nicht halten konnte, nachdem Willy Brandt aus dem Intrigenspiel im Gefolge der Spionageaffäre Guillaume seine Konsequenzen gezogen und seinen Rücktritt als Bundeskanzler erklärt hatte. Ganz zurückgezogen hat Egon Bahr sich nie aus der Politik. Kritisch begleitete er das Zeitgeschehen bis zum Schluss. Als die meisten westlichen Staatsmänner, um Putin zu bestrafen, am 9. Mai den Feiern in Moskau zum 70. Jahrestag des Sieges über den Faschismus fernblieben, meinte Egon Bahr, nur wer an diesem Tage, und nicht am Tag darauf, der Opfer gedenke, erreiche die Seele Russlands. Er wusste immer, worauf es ankam. Wir werden ihn vermissen.