Nazi-Methoden: Was einem in Deutschland passiert, wenn man sich zu Wort meldet und protestiert

 

Jan Otteni

 

Freital/Sachsen (Weltexpresso) - Die Bilder gehen um die Welt: Pöbelnde Menschen vor Flüchtlingsheimen - nicht nur aus dieser Nacht in Heidenau. Das schockiert viele. Ein Jurastudent startet eine Petition für ein Demo-Verbot. Es folgen Morddrohungen. Er gibt auf. Die Petition läuft aber weiter. Jetzt erhalten sie alle Innenminister.

 

"Das Recht auf Ruhe und Sicherheit gilt für alle ... für Asylsuchende wie in Freital erst recht". So wird für die Petition "Heime ohne Hass" auf der Internetplattform change.org geworben, die ein Demonstrationsverbot direkt vor Flüchtlingsheimen fordert. Den Aufruf gegen die "Hassdemos" haben bislang mehr als 62.600 Menschen unterschrieben. Initiiert hat die Petition vor vier Wochen ein Jurastudent aus Potsdam, der in den ersten Tagen fast 41.700 Unterschriften sammelte und dann urplötzlich seinen Aufruf zurückzog und sämtliche digitale Spuren von sich im Netz verwischte. Grund: Seine Familie war zuvor anonym bedroht worden.

 

 

Morddrohung gegen Familie des Initiators

 

"Der Student wurde angerufen, da meldet sich jemand mit der 'neuen SS' und drohte ihm, er drohte noch nicht mal, sondern sagte: Wegen der Petition würden seine Eltern und Geschwister sterben. Der Anrufer nannte dann auch die Namen und Anschriften der Geschwister", erzählt Heinrich Schmitz. Der Rechtsanwalt aus Euskirchen war der nächste, der massiv bedrängt wurde. Seine Kolumne "Friede, Freude, Freital?" im Magazin "The European" hatte dem Jurastudenten den Anstoß für die Petition gegeben. Der Artikel sorgte für viele Klicks und öffentlichen Wirbel. Es sei ihm ein Rätsel, schrieb Schmitz, "wie es die zuständigen Freitaler Behörden seit Wochen zulassen können, dass die Freitaler Brüllmeister ihr 'besorgtes' Rassistengeschrei wieder und wieder zum Besten geben" dürften.

 

Schmitz zeigte auf, wie man ganz einfach mit dem Versammlungsrecht solche Aufmärsche unterbinden könne. Ein Verbot etwa vor Häusern von Politikern, wie 2012 in Berlin vor dem von Klaus Wowereit, sei möglich, sollte erst recht möglich sein vor Flüchtlingsheimen, meinte der Jurist. Sein Plädoyer löste eine Debatte aus, führte zur Petition und zur Morddrohung gegen seine Familie. Erst wurde der Student anonym eingeschüchtert, dann der Kolumnist, der weiter gegen die "Hassbürger" polemisierte. Die Drohungen werden vom Staatsschutz untersucht in Potsdam und Bonn.

 

 

Mobilisierung des "Mobs" im Schatten der Flüchtlingskritik

 

"Psychoterror" nennt Anetta Kahane die anonymen Angriffe. Sie arbeitet für die Amadeu-Antonio-Stiftung (AAS), die sich für den Schutz von Minderheiten einsetzt. So etwas, sagt sie, "gab es schon lange nicht mehr". Die Morddrohung "ragt schon heraus", meint auch Rechtsextremismus-Experte Hajo Funke, der Drohungen dieser Art selbst schon erhalten hat. Seit Jahren beschäftigt sich der Politikwissenschaftler von der Freien Universität Berlin (FU) mit der rechtsextremistischen Szene. "Wir beobachten eine Mobilisierung neonazistischer Kader und des neonazistischen Mobs. Im Schatten der Flüchtlingskritik versuchen sie, zu reüssieren und neu zu mobilisieren." In seinem erst kürzlich erschienenen Buch "Staatsaffäre NSU" lenkt Funke die Aufmerksamkeit auch auf "terrorafine Netzwerke" und ihre Radikalisierung, "an deren Ende dann die Terrorgruppe NSU stand". Schon 2013 warnte der renommierte Politikwissenschaftler: "Sie steuern ... zu großen Graden spontan erscheinende Ausbrüche der gewalttätigen neonazistischen Bewegung."

 

Im jüngsten Verfassungsschutzbericht wird deutlich: Die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten gegen Asylunterkünfte hat sich innerhalb eines Jahres "mehr als verdreifacht". Zudem hat das Bundesinnenministerium in dieser Woche bestätigt: Fast jede zweite rassistische Gewalttat im vergangenen Jahr in Deutschland ist im Osten verübt worden. Die Petition "Heime ohne Hass" mit großem öffentlichen Wiederhall könnte den Neonazis und ihrer Strategie in die Quere gekommen sein.

 

 

Gegner in Angst und Schrecken versetzen

 

Auch der Kolumnist, Rechtsanwalt Heinrich Schmitz aus Euskirchen, wurde "makaber in die Enge getrieben", sagt Robert Scholten vom Polizeipräsidium Bonn. Ein Anrufer hatte in seinem Namen die örtliche Polizeidienststelle verständigt und gesagt, er habe seine Frau getötet. Beamte durchsuchten daraufhin das Haus des Juristen und riefen die Tochter an und fragten, ob sie wüsste, wo ihre Mutter sei, ihr Vater hätte sie wohl umgebracht. Die Polizei geht von einer politisch motivierten Straftat aus. Das Verhalten des Anrufers, so Polizeisprecher Scholten, deute auf eine durchdachte, vorbereitete Tat hin. Im Austausch mit anderen Dienststellen wird bundesweit ermittelt.

 

Kolumnist Schmitz hat für sich Konsequenzen gezogen und öffentlich den Rückzug angekündigt wegen seiner "verängstigten Frau und Tochter". Derartige Bedrohungen erinnern an Methoden während der Nazi-Zeit; Familienangehörige wurden mitverantwortlich gemacht, das nannten die Nationalsozialisten dann "Sippenhaft". In den Sozialen Netzwerken werden solche Einschüchterungsversuche mit großer Sorge betrachtet, vielfach heißt es in Kommentaren: "Mir macht der braune Mob ... große Angst. So begann es in den 30igern." Und es wird gefragt: "Ist es wieder soweit?" Ein Vergleich, den auch Verfassungsschützer ziehen. Das nationalsozialistische Spektrum nutze Methoden, die "sich deutlich an den Mustern aus der sogenannten NS-Kampfzeit (1919-1933) orientieren", heißt es im Verfassungsschutzbericht für 2014. "Ethnisch Fremde und politische Gegner sollen in Angst und Schrecken versetzt werden."

 

 

Verbote sind kein Allheilmittel

 

Die Petition "Heime ohne Hass" gehört mittlerweile zu den zehn beliebtesten auf der Plattform change.org. Nach dem Rückzug des Jurastudenten haben andere seinen Aufruf in anonymer Form wiederbelebt. Change.org war damit einverstanden. Es sollen keine weiteren Personen gefährdet werden. In der kommenden Woche wird die Petition mit allen Unterschriften an die Innenminister verschickt. Ralf Jäger (SPD) sollte sie persönlich in die Hand gedrückt werden. Daraus wird nichts. Freitagabend hat sein Ministerbüro in Düsseldorf abgewunken, "angesichts der akuten Flüchtlingssituation" käme der gewünschte Termin nicht zustande. So zerplatzt die Hoffnung der Petitions-Befürworter, dass sich der Innenminister des größten Bundeslandes gewinnen lässt für ein Verbot von "Hassdemos" vor Flüchtlingsunterkünften.

 

In Freital sei ein Verbot "überfällig", meint Professor Funke von der Freien Universität. Zum Schutz der Flüchtlinge könne das Versammlungsrecht entsprechend eingeschränkt werden. Der sächsische Innenminister Markus Ulbig (CDU) hält davon nichts, wie er im ARD-Magazin "Kontraste" sagte: "Mit Verboten ist das durchaus schwierig. Aus diesem Grund setzen wir auf Argumentation und Vernunft."

 

 

Zivilgesellschaft muss Flüchtlinge schützen

 

Anetta Kahane von der Amadeu-Antonio-Stiftung (AAS) ist generell gegen Verbote, das sei kein Allheilmittel. "Wir müssen die Auseinandersetzung vor Ort führen und die Konflikte durchstehen", sagt Kahane mit Blick auf Berlin-Hellersdorf. Vor zwei Jahren sollten dort in einer leerstehenden Schule 200 Asylbewerber untergebracht werden. Neonazis und die NPD wollten das verhindern. "Linke kamen zum Schutz der Flüchtlinge", wie der Tagesspiegel damals berichtete, "behelmte Polizisten rückten an, Fernsehteams filmten, ein Anwohner zeigte den Hitlergruß". Die Flüchtlinge kamen und blieben, die Auseinandersetzungen mit den Rechten auch. Die Initiative "Hellersdorf hilft" berichtete erst Anfang August in einer Pressemitteilung: "Fast täglich kam es bisher zu Drohungen, gewalttätigen und versuchten Übergriffen auf Geflüchtete und Unterstützer".

 

Die Stimmungslage im Juli 2013 in Berlin ist mit der im Juni 2015 in Freital vergleichbar. "Die Zivilgesellschaft muss die Flüchtlinge schützen", Verbote helfen da nicht, sagt Kahane und meint dann doch: "Um die Flüchtlinge zu entlasten, ergibt eine Bannmeile in Sachsen vielleicht Sinn".

 

 

INFO:

 

Plattform für Petitionen

 

Change.org versteht sich als "kostenlose Kampagnen-Plattform". Jeder kann dort eine Petition starten und um Unterstützung für sein Anliegen werben. Mehr als 113 Millionen Menschen seien auf der Seite aktiv, so Angaben des US-amerikanischen Betreibers mit Sitz in San Francisco. Chance.org sei nach eigenen Angaben die am "schnellsten wachsende Plattform für soziale Veränderungen“. Gegründet wurde das Portal von zwei Studenten aus Stanford. "Die neue Macht der Bürger. Petitionen für alle bei chance.org“, sagt der Deutschlandfunk über das Petitionsportal, das Magazin "Der Spiegel" hebt auch "Die Kraft des Klicks" hervor.

 

 

Foto:

Ausländerfeindliche Proteste im Juni 2015 in Freital direkt vor dem Flüchtlingsheim. Eine Petition fordert ein Verbot solcher HASSDEMOS zum Schutz der Flüchtlinge, abgedruckt in zdf heute, Quelle:ap