Helmut Lachenmanns "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" in der Frankfurter Oper
Hanswerner Kruse
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - „Musik mit Bildern“ nennt Tonkünstler Helmut Lachenmann seine selten aufgeführte Komposition „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von 1997. Nur wenige Tage präsentiert die Frankfurter Oper dieses außergewöhnliche Werk nach HC Andersens Märchen.
„Es war ganz grausam kalt; es schneite und es begann dunkler Abend zu werden. In dieser Kälte ging auf der Straße ein kleines, armes Mädchen mit bloßem Kopf und nackten Füßen.“ So beginnt Andersens Märchen, in dem die Kleine an der Kälte und den gleichgültigen Menschen zugrunde geht.
Orchester und Chor sind im Saal verteilt, auch auf der Bühne sitzen Zuschauer. Auf einer Ebene über ihnen musizieren Instrumentalisten, die von einer großen Leinwand verdeckt werden. Zu Beginn pusten und schnauben die Bläser in ihre Instrumente, Streicher kratzen und scharren mit den Bögen. Chor und Solistinnen atmen laut, keuchen und schnalzen. Diese Geräusche verbreiten eine fremdartige und eisige Atmosphäre im Saal. Manche Töne machen Verkehrslärm und achtloses Vorübergehen der Leute spürbar. „Ritsch!“, allegorisieren die Violinen das Anzünden der Schwefelhölzer, an deren Flammen sich das Mädchen wärmt und ihre Fantasien entzünden. Musikalische Klangsplitter und lyrische Gesangsfetzen mischen sich unter die Tonmalereien. Der Kältetod des Kindes mit wundersamen Halluzinationen wird mal laut und dramatisch, meist aber subtil und geheimnisvoll in eigen-artige Klänge umgesetzt.
Diese Komposition schafft die Atmosphäre für eigene Assoziationen und innere Bilder der Hörenden, denn das Märchen wird nicht dargestellt oder gesungen. In den Saal projizierte Textfragmente verstärken visuell die musikalischen Tableaus. Wenn man sich denn auf das reine Hören einlassen kann, wird der Opernbesuch zum „Wahnehmungsabenteuer“ (Lachenmann).
Der Komponist will „das Hören befreien“, alle Töne und Klänge seien bereits komponiert, nun komme es darauf an, sie auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen. Er sei kein Provokateur, wolle die Musik nicht zerstören und seine Zuhörer nicht „verarschen.“ Vom Publikum erwartet er aber, dass es sich selbst beim Hören neugierig beobachtet. Diese Selbstbeobachtung wäre intensiver, wenn man den Instrumentalisten, dem Chor und den zwei Soprani (großartig Christine Graham, Yuko Kakuta) mehr bei der Arbeit zusehen könnte.
Doch die von Regisseur Benedikt von Peter im Saal verteilten Musiker und Vokalisten schaffen zwar wunderbare Raumklänge, sind aber ohne Grund fast unsichtbar. Außerdem verbirgt die Großbildleinwand viele Musiker und nötigt so das Publikum zum „Rudelgucken“ eines abgefilmten Meerschweinchens. Das umsorgt der Schauspieler Michael Mendl während der gesamten Dauer des Stücks. Klischeehaft symbolisiert es die Zuwendung, die dem Mädchen fehlt. Dieses unerträgliche Public Viewing lenkt von der Komposition ab; wenn man die Augen nicht schließt, verkommt sie zur Filmmusik.
Unsere Zeitung fragte vorher den Komponisten, was er denn vom Auftritt des Meerschweinchens halte. Er wolle nie den Regisseuren hineinreden, meinte Lachenmann, aber Peter ginge mit dieser Idee ein „unglaubliches Risiko“ ein.
Das Risiko war zu groß! Die Premiere zeigt, wie er mit seinen Regiemätzchen und den versteckten Musikern Lachenmanns geniales Werk zu ersticken sucht und gegen dessen Komposition arbeitet. Wie zuletzt 2012 in Berlin wird deutlich, dass Lachenmanns „Musik mit Bildern“ keine Illustrationen benötigt. Dennoch ist die Frankfurter Aufführung unter der musikalischen Leitung von Erik Nielsen äußerst hörenswert. Man sollte sie mit weit geschlossenen Augen erleben und sich in den grandiosen Klangwelten treiben lassen. Die Kenntnis des Märchens ist dazu von Vorteil.
Video http://www.oper-frankfurt.de/de/page1171.cfm
Weitere Aufführungen am 21., 23., 24., 26. und 27. September jeweils um 19.30 Uhr
Der Komponist Lachenmann
Helmut Lachenmann (80) gehört zu den Komponisten der Neuen Musik, der als erster konsequent die Klangmöglichkeiten der menschlichen Stimme und der traditionellen Orchesterinstrumente erkundete. In seinen Werken nutzt er die tabuisierten Töne beim Blasen, Streichen oder Anschlagen der Instrumente, bei der Stimme Atem- und Körpergeräusche. Um seine - für Orchestermusiker und Chöre ungewöhnlichen - Klänge zu erarbeiten, bereitet er zunächst Musiker und Sänger zunächst selbst auf die Einstudierungen vor.
Foto © Monika Rittershaus
HELMUT LACHENMANN: DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERN
(PREMIERE VOM 18. SEPTEMBER 2015)
Musik mit Bildern
Text vom Komponisten
nach dem gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen
sowie Texten von Leonardo da Vinci und Gudrun Ensslin
Mit Übertiteln
Musikalische Leitung: Erik Nielsen
Inszenierung: Benedikt von Peter
Bühnenbild: Natascha von Steiger
Kostüme: Cinzia Fossati, Natascha von Steiger
Licht: Joachim Klein
Video: Bert Zander
Dramaturgie: Sylvia Roth, Mareike Wink
ChorWerk Ruhr: Michael Alber
Sopran: Christine Graham, Yuko Kakuta
Klavier: Yukiko Sugawara, Tomoko Hemmi
Shô: Mayumi Miyata
Sprecher: Helmut Lachenmann
Schauspieler: Michael Mendl
ChorWerk Ruhr
Statisterie der Oper Frankfurt
Frankfurter Opern- und Museumsorchester