Konzertmelodramen und Klavierwerke mit der legendären Sängerin Anja Silja und ihrem Begleiter am Klavier Andrej Hoteev in der Oper Frankfurt, Teil 3

 

Oper Frankfurt

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Aus dem Programmheft, das uns perfekt vorbereitet, bringen wir in diesem Artikel nur das, was bis zur Pause geschieht, denn das Programm unterscheidet den ersten Teil mit deutschprachigen Komponisten, der Pause und dem zweiten Teil, in dem vier Russen melodramatisch werden. Die Redaktion

 

Seit das Erbe der Antike mit der europäischen Renaissance wiederentdeckt worden ist, gab es immer wieder Versuche, das »musikalische« Sprechen neu zu beleben. Einer dieser Versuche war die Oper um 1600, ein anderer das Melodram. Als Melodram bezeichnet man das Sprechen ohne genau bestimmte Tonhöhen bei gleichzeitiger Musik von Instrumenten.

 

Ob es so etwas schon in der Antike gegeben hat, ist nicht sicher. Doch im 18. Jahrhundert begann man, sich verstärkt für diese Form zu interessieren. In Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz ist es der schwarze Jäger Samiel, der in der grauenvollen Wolfsschlucht-Szene zur Orchestermusik spricht. Einige Jahre zuvor hatte sich Beethoven das Melodram vorbehalten für jene Szene in seiner einzigen Oper Fidelio, in der Leonore im Kerker das Grab für ihren eigenen Mann, Florestan, schaufeln soll.

 

Das Melodram stand also in der Oper für Situationen des Schreckens, für das Unheimliche, den blanken Horror. Mit der Romantik entwickelte sich das sogenannte Konzertmelodram. Der Name meint nur, dass die Stücke – meistens mit Klavierbegleitung – nicht mehr an Oper und Schauspiel gebunden waren. Eigentlich entfernten sie sich sogar noch grundsätzlicher von der Bühne und waren für den halb-privaten Raum gedacht: für bürgerliche Gesellschaften im eigenen Haus, für Freundschaftskreise, für den adligen Salon, der bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine der wichtigsten Sphären für die Entwicklung der Kunst war.

 

Das Melodram Abschied von der Erde schrieb Franz Schubert (1797–1828) 1825 – als erstes Konzertmelodram überhaupt – nach einem Jugendgedicht des in Schlesien geborenen Wiener Juristen und späteren Staatsmannes Adolf von Pratobevera (1806–1875). Man hatte Schubert offenbar darum gebeten, denn die Aufführung kam bei einem Familienfest zum Namenstag des Vaters des damals neunzehnjährigen Dichters zustande.

 

Die Verse bilden den Epilog zu dem einaktigen Theaterstück Der Falke. Schubert setzte die resignierenden Worte zu einer ruhigen Klavierbegleitung in freundlichem Dur, wobei sich deutlich erkennen lässt, dass er formal der Idee eines variierten Strophenlieds folgt, ohne dass gesungen wird. Nicht nur Schuberts letzte Klaviersonate (Nr. 21, B-Dur, D 960) aus dem Jahr 1828, sondern auch Gustav Mahlers Das Lied von der Erde (1908/09) klingen in Schuberts Melodram bereits an.

 

Robert Schumann (1810–1856) hat sich mehrfach für das Melodram interessiert. Zwei Texte von Friedrich Hebbel (1813–1863; Schön Hedwig und Ballade vom Heideknaben) setzte er für Sprechstimme und Klavierbegleitung, dazu im Jahr 1852 noch die Ballade Die Flüchtlinge des englischen Romantikers Percy Bysshe Shelley (1792–1822). Letztere ist ein Schauerstück über die Flucht eines Liebespaars bei stürmischer See vor den Flüchen des eigentlichen Bräutigams der Frau und deren Vater. Das Klavier malt Sturm und Wogen mit aller Wucht aus. Besonders unheimlich wird das Stück durch die Tatsache, dass Shelley selbst am 8. Juli 1822 bei einem Segelunfall im Sturm vor der italienischen Küste bei La Spezia ums Leben kam.

Jan Brachmann

Zu Richard Wagners (1813–1883) sieben Faust-Vertonungen gibt es einen sehr konkreten Anlass, nämlich die Tatsache, dass seine Schwester Rosalie in den Faust-Aufführungen des Leipziger Theaters 1829 die Rolle des Gretchens spielte. Wagner ist zu dieser Zeit sechzehn Jahre alt und in seiner Berufsfindung noch nicht sehr weit fortgeschritten: Er macht eigene Versuche als Dramatiker und Komponist und folgt hierin dem von ihm besonders verehrten E. T. A. Hoffmann. 1831 immatrikuliert er sich an der Leipziger Universität. Wie er in seinem Tagebuch notiert, entstehen in diesem Jahr die Kompositionen zu Goethes Faust. Sie erscheinen erst posthum und nach Abflauen des großen »Wagner-Fiebers« im Jahr 1914.

 

Durch die Anregung der Faust-Inszenierung in Leipzig inspiriert, komponiert Wagner seine Sieben Kompositionen im Stile echter »Inzidenzmusik«, ein Umstand, der seine Lieder von Berlioz’ Huit Scenes de Faust unterscheidet: Alle Lieder sind in die Handlung integriert und fast alle durch Regieanweisungen als »Realitätszitate « ausgewiesen.

 

Die Nr. 7, das Melodram Gretchens, fällt unter die Kategorie von »dramaturgisch motivierter Inzidenzmusik« und bildet damit eine Besonderheit. Gretchen ist schwanger und steht kurz vor ihrer gesellschaftlichen Ächtung, die sie zur Kindsmörderin werden lässt. Diese dramatische Emotionalisierung schlägt sich in Gretchens Gebet auf eindrucksvolle Weise nieder. Der Text gliedert sich in vier verschieden große Teile: Eingerahmt von der traditionellen Form des liturgischen Gesanges, der als Zitat erscheint, öffnet sich eine Arie von höchst individueller Selbstaussage. Nach einem dramatischen Hilferuf an die Muttergottes kehrt Gretchen wieder in den gebetsmühlenartigen Gleichklang der traditionellen Gebetsverse zurück.

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dieses letzte Stück der Sieben Kompositionen gewiss das spannendste und musikalisch am weitesten ausgefeilte ist. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, dass Wagner seine Melodie als Selbstzitat in ein späteres Werk (seine Oper Die Feen) mit einfließen ließ, sondern auch die genaue Korrespondenz, die sich zwischen Text und Musik ermitteln und die auf eine gründliche Lektüre schließen lässt. »Bezeichnend, dass Wagner für diesen Schluss- / Höhepunkt seiner Faust-Vertonungen die Gattung des Melodrams wählt.« (Andrej Hoteev)

 

 

Goethe selbst waren die wichtigsten theatralischen Gesetzmäßigkeiten eines Melodrams natürlich bekannt, wenn er ihm auch zwiespältig gegenüberstand. Bei bestimmten Texten jedoch könne die Musik durchaus positiv wirken und der Präzision der Wortsprache die stimmungshaltige »Farbgebung« verleihen. (Carolin Bunke)

 

Für die Sphäre des Gespenstischen hatte schließlich auch Franz Liszt das Melodram reserviert. Er komponierte gleich fünf Werke dieser Gattung. In Weimar schrieb er 1860 seine Spukballade Der traurige Mönch nach Nikolaus Lenau (1802–1850), die musikalisch zu ganz ungewöhnlichen Mitteln greift: In der Klaviereinleitung verwendet Liszt den übermäßigen Dreiklang und im Bass die Ganztonleiter, von der Claude Debussy später reichlichen Gebrauch machen sollte. Weiterhin geht er neue, experimentelle Wege in atonale Richtung. In dieser Kühnheit hat Der traurige Mönch sicherlich mitgeholfen, die Blüte des Melodrams in Deutschland um 1900 – bei Richard Strauss, Max von Schillings, Engelbert Humperdinck und schließlich auch bei Arnold Schönberg – vorzubereiten. (Jan Brachmann)

 

Bisherige Artikel in WEltexpresso:

 

 

Teil 1

http://weltexpresso.tj87.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6371:anja-silja-am-26-januar&catid=86&Itemid=482

 

 

Teil 2

http://weltexpresso.tj87.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6428:abschied-von-den-rosen&catid=86:musik&Itemid=482

 

Teil 3

http://weltexpresso.tj87.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6429:aus-dem-programm-deutschsprachiger-komponisten&catid=86&Itemid=482

 

Foto:

Das bühnenartige übertriebene Getue im normalen Leben gehört zum Melodrama dazu.