Sein Jubiläumskonzert in Hamburg

Helmut Marrat

Weltexpresso (Hamburg): Beethoven heißt das Programm. Oder anders herum gesagt: Buchbinder spielt ein reines Beethoven-Programm. Darunter bekannteste Sonaten wie Nr. 8 c-Moll op. 13, die "Pathetique" oder, wie die korrekte Bezeichnung lautet: "Grande Sonate pathétique"; dann die Sonate Nr. 14 cis-Moll Nr. 2, bekannt unter dem Namen "Mondscheinsonate", eine Bezeichnung, die sich vermutlich vor allem auf den ersten, den langsamen Eingangssatz, bezieht.

Beethoven hat das Stück "Sonata quasi una Fantasia" überschrieben. - Pause – Anschließend die, was die im Programm angegebene Spieldauer angeht, sogar zwei Minuten längere Klaviersonate Nr. 10 G-Dur op. 14 Nr. 2, die mir in der Vorstellung jedoch als kürzere Sonate in Erinnerung lebt, zu unrecht, wie man sieht. Aber die Vorstellung oder auch oft die Erinnerung deckt sich nicht immer mit der Wirklichkeit; oder diese Wirklichkeit müsste falsch sein: So erscheint mir in der Vorstellung "die Pathetique" immer als eine spätere Beethoven-Sonate, während sie der Nummerierung nach doch eine seiner sehr frühen Sonaten ist. Das mag an ihrem etwas nachdenklichen, vielleicht sogar resignativem Mittelteil liegen, dessen Melodieführung später auch ähnlich im 3. Satz der IX. Symphonie d-Moll op. 125 wiederkehren wird. - Den Abschluss- und Höhepunkt des Programms bildete die "Waldstein-Sonate", die Klaviersonate Nr. 21 C-Dur op. 53. - Zwei kurze Zugaben spielt Rudolf Buchbinder: das Finale aus der "Sturm"-Sonate Nr. 17 d-Moll op. 31 Nr. 2, was nicht wirklich glückt, weil einfach der Aufbau als Grundlage dazu fehlt; und eine "Bagatelle", von denen Beethoven zwischen 1802 und 1824 ebenfalls vierundzwanzig geschrieben hat. - So weit die zunächst einmal fast wertungslose Aufzählung ...

Rudolf Buchbinder ... Die Konzert-Reihe stand im Zusammenhang mit Buchbinders 70. Geburtstag - Buchbinder wurde am 1.12.1946 im Böhmischen Leitmeritz geboren. Und ich hatte ihn schon einmal gehört, gesehen. Allerdings in einem etwas problematischen Konzertraum, nämlich einem für Konzerte verwendeten Provisorium; ein bisschen vergleichbar verschiedenen Räumen des Schleswig-Holstein-Musikfestivals, nämlich einem ehemaligen Schaf- oder Schweinestall, seit vielleicht 30 Jahren aber zu einem kommunalen Veranstaltungsraum gemacht, allerdings auch als Turnhalle genutzt; man sieht also während jeder Veranstaltung auch durchgehend die an den Wänden angebrachten Turnleitern.

Das ist natürlich nicht gerade inspirierend. Und so war bei jedem noch der dort auftretenden Künstler zu beobachten, dass ihre Qualität von Minute zu Minute abnahm, unweigerlich, vielleicht nicht einmal bewusst. Aber dieser Schafstall-Genius-Loci übte immer seinen Einfluss aus. Fast jedes Programm war da noch zum Scheitern verurteilt. Besonders das der sensibleren Künstlernaturen, zu denen sicherlich auch Rudolf Buchbinder zählt. - Aber es gab auch da Momente, beobachtete Momente an ihm, die mir nicht gefielen.

''Ein typischer Vertreter der 68-Generation'', dachte ich. Warum? Ich hatte viele bedeutende Pianisten gesehen, vor allem noch der Generation davor, der sogenannten 'Väter'-Generation wie Rudolf Serkin (1903 – 1991), Stefan Askenase (1896 – 1985) und Wilhelm Kempff (1895 – 1991). Deren Spiel war ein völlig anderes, sichereres gewesen. Sicherer in Bezug darauf, nicht abstürzen zu können, sondern ihr Material souverän zu beherrschen. Später, wie gesagt, sah ich dann Rudolf Buchbinder eine Beethoven-Sonate spielen; ich glaube, es war auch bereits die "Waldstein-Sonate" gewesen. Ich sah, wie sich Buchbinder zusammennahm, wie er sich vorstellte, durch diese Masse Noten-Wald jetzt hindurch zu müssen, wie er sich beengte und auf das Ziel, die letzten Töne dieser Sonate, ausrichtete, um nur hindurchzukommen!

 

Ohne abzustürzen! --- Ich weiß, wovon ich rede: Ich spielte selbst damals eine Beethoven-Sonate, nämlich gleich die erste, die Joseph Haydn () gewidmete Klaviersonate Nr. 1 f-Moll op. 2 Nr. 1, die mit einer aufregenden Akkordfolge beginnt, aufgelösten Akkorden, und sofort das einführt, was Beethoven mit berühmt gemacht hat: Nämlich die Beschleunigung, eine Art Zeitraffer, der in der plötzlichen Verkürzung des einmal ganz ausgeführten Melodiebogens besteht. Hier tut sich ur-plötzlich eine Tiefenentwicklung von ungeheurer Kraft auf, wird aufgerissen! Wer das nicht aushält, versinkt im Abgrund. Die Parallele von Liebe und Kunst. - Bei Hebbel () gibt es eine vergleichbare Szene, in der Holofernes mit seinem Pferd über einen ungeheuren Abgrund hinübersetzt. Sein Diener ist betroffen! Denn er sieht die Gefahr der Tiefe. Holofernes hatte sie nicht gesehen. Er hatte nur eine Quelle entdeckt, die seinen Durst löschen sollte.

Die in diesem Fall naive Gerade diente zur Überwindung der in diesem Fall gar nicht bemerkten dritten, der Tiefen-Dimension. Die Überlegenheit der Strecke gegen das Einsacken, Versacken. Wie es der Flugzeugkonstrukteur Kurt Tank (1898 – 1983) einmal gesagt hat: Die Schwerkraft durch die Zentrifugalkraft überwinden! - Buchbinder aber waren die Untiefen der Musik Beethovens bewusst. Also musste er sich zusammennehmen und konzentrieren und ausrichten wie ein Pferd, das Hindernisse überwinden soll. Die Absturz-Sicherheit im Umgang mit dem Material der durch Reduktion so weit geschützten Väter-Generation; und die Absturz-Gefährdung der die Reduktion verlassen habenden 68-Generation.

Ein anderes, sehr vergleichbares Beispiel findet sich bei Marion Gräfin Dönhoff (1909 - 2002) und Christian Graf v. Krockow (1927 - 2002): Die Dönhoff verlässt im Januar 1945 ihre Heimat, begibt sich auf den Treck nach Westen, der sie bis in den Frühling hinein über 1200 km per Pferd ins Weserbergland bringen wird. "Wir aßen also noch rasch zusammen: wer weiß, wann man wieder etwas bekommen würde ... Dann standen wir auf, ließen Speisen und Silber auf dem Tisch zurück und gingen zum letzten Mal durch die Haustür, ohne sie zu verschließen." Das wird ganz unsentimental beschrieben; Gefühle scheinen kaum vorgekommen zu sein, sie werden zumindest nicht geäußert; praktische Überlegungen dagegen bestimmen das Geschehen. Von Trauer keine Spur. (Aus: Namen die keiner mehr nennt / Ostpreußen – Menschen und Geschichte, 1962, dtv 247, 1983, S. 22.) - Anders verhält es sich mit der Rückkehr Christian Graf v. Krockows auf sein ehemaliges Gut in Rumbske bei Stolp in Pommern. Dabei mag eine verstärkende Rolle spielen, dass Krockow mit seiner Schwester zusammen reiste. Er erfährt dabei, dass während der Jagdsaison wohlhabende Westdeutsche an die polnische Verwaltung hohe Summen zahlen, um in der zum Gut gehörenden Jagd kapitale Hirsche schießen zu dürfen. Er empört sich innerlich dagegen, was so ein vollgefressener Wanst auf seinem Grund und Boden zu tun habe, der seit 1945 ja seinem Besitz entzogen wurde, und fühlt diese Entfremdung als einen Schlag in die Magengegend und als einen großen Schmerz. Wenig darauf erfährt er, dass es seiner Schwester ebenso ergangen ist. - Hier ist also deutlich die Betroffenheit und Gefährdung, abzustürzen, nachvollziehbar geworden, worin sich auch der Unterschied dieser beiden Generationen manifestiert. (In: Die Reise nach Pommern, DVA, 1985.) ---

Wie aber ist Rudolf Buchbinder mit dieser Gefährdung, die vor über 20 Jahren so deutlich zu bemerken war,  umgegangen?
Er hat die Lücke durch Wissen gestopft, durch Bildung; sich ein Schutzkorsett aus Wissen zugelegt. In dem kleinen Programmheft, das wie immer qualitätvoll gemacht ist, heißt es über Buchbinder: "Als leidenschaftlicher Sammler historischer Partituren hat er 39 komplette Ausgaben von Klaviersonaten Ludwig van Beethovens in seinem Besitz. Des weiteren eine umfangreiche Sammlung von Erstdrucken, Originalausgaben und Kopien der eigenhändigen Klavierstimmen und Partituren der Klavierkonzerte von Johannes Brahms." Und: "Zwei Bücher sind von Rudolf Buchbinder bislang erschienen, seine Autobiographie 'Da Capo' sowie 'Mein Beethoven – Leben mit dem Meister'". -

Das Korsett trägt. Ein Sich-Hindurchwerfen durch den Dschungel einer Sonate braucht Buchbinder nicht mehr. Er spielt entspannter als früher. Das bedeutet nicht: spannungsarm. Er bleibt dabei ein deutlicher Schüler Beethovens, wenn man das auch sagen kann, wenn ein persönlicher Kontakt zwischen Lehrer und Schüler aus historischen Gründen nicht mehr möglich war. Er ist ein Nach-Spieler der Beethoven-Zeit – oder seiner Auffassung dieser Epoche. Was Buchbinder fehlt, ist das Geniale, Genialische, das neue Wege weist (im Unterschied zum Beispiel zu Igor Levit oder András Schiff). Buchbinder macht eine vergangene Klavier-Virtuosen-Epoche wieder nacherlebbar. Ich dachte an die Karrikatur eines Pianisten durch Wilhelm Busch (1832 – 1908), im wahren Sinne des Wortes eine 'Überzeichnung' des Lisztschen Virtuosentums; hier, bei Buchbinder natürlich nur noch in Ansätzen ahnbar, denn bei allem bleibt Buchbinder als Persönlichkeit doch etwas grau. - Also: Nachschöpfer statt Neuschöpfer (soweit das ein Interpret überhaupt sein kann). - Aber gerade durch diesen Brückenbau zu einer einstigen Tradition erhält sein Konzert doch einen Wertzuwachs, der zumindest ein bildungsbezogener ist.

Ich gebe ein paar Notizen wieder, die ich mir während des Konzerts gemacht habe: "Konstruktion wird selten klar sichtbar", bei der "Pathetique". Und bei der "Mondscheinsonate": "So schnell vorbei?! Gar nichts erlebt!" Das meint den 1. Satz, der hier sonderbar nichtssagend erscheint, der bei anderen Pianisten (herrlich bei Rudolf Serkin!) doch eine ganze Welt bedeuten kann. "Brav. Etwas müde. Finten nicht hörbar gemacht. Es fehlt der Funke." - Das bezieht sich auf den 2. und 3. Satz. Wahrscheinlich bin ich hier auch fordernder, weil ich diese Sonaten selbst gespielt habe.

Und doch: Sonderbar! Einen Tag später habe ich plötzlich Notenfetzen aus der "Pathetique" im Ohr, und zwar so wie Buchbinder sie gespielt hat. Es muss also ganz offenbar doch mehr dran gewesen sein, als sich im Moment des Spielens allgemein vermittelte ...

- Pause. -
 
"Bisher sein Höhepunkt, auch weil konkurrenzlos. Hübsches Ende." - Diese Notizen meinen die Klaviersonate Nr. 10 G-Dur op. 14 Nr. 2. - Ja, hier bei diese selten gespielten Klaviersonate lässt sich frei und unbeschwert zuhören. Und der Spaß, den Buchbinder selbst durch das Spiel dieser Sonate hat, - auch er fühlt sich hier anscheinend frei vom belastenden Druck des Schon-Gehört-Habens des Publikums -, dieser Spaß und diese Spielfreude übertragen sich mühelos aufs Publikum, das jetzt auch ganz anders sitzt: Entspannt und lockerer, genießend nun mehr als sich-bildend, bis zum Schluss, bei dem Buchbinder, fast schon vom Flügel aufgestanden, noch die letzten paar Töne mit mozartische leichter Hand auf die Tasten streut, und schon rasch aufgestanden ist und den Applaus entgegen nimmt.

Die "Waldstein-Sonate" hat von mir die lakonische Notiz "Das war am besten." bekommen. Warum? Weil hier nun Bildungsgut und Lockerheit zusammenfließen. Und so hat sich dieses interessante Konzert, das man im Gedächtnis bewahren wird, sich zu einem markanten Höhepunkt gesteigert.

Die "Bagatelle" setzt den letzten Feinschliff oder I-Punkt darauf; und auch hier entlässt sich der Pianist aus dem Spiel noch einmal mit solch paar hingeworfenen Tönen, während er längst sich schon vom Flügel weggedreht hat und aufgesprungen ist, um nun noch einmal den großen Beifall entgegen zu nehmen und sich zu verabschieden. - Man ist gespannt auf seine weitere Entwicklung!

 

Foto: (c) buchbinder.de