Hanswerner Kruse
Hohenzell / Poppenhausen (Weltexpresso) - Am 1. Mai 1945 desertierte Barbara Werners Großvater in Dresden und schlug sich 19 Tagen lang auf abenteuerliche Weise bis nach Schlüchtern-Hohenzell durch. Hier wohnte seine Frau Käthe mit dem gemeinsamen Sohn, wohin sie vor den alliierten Bombenangriffen auf das Ruhrgebiet geflohen war.
Jahrelang beschäftigte sich die Enkelin mit dem Leben von Opa Johannes Schneider - auch mit seiner Flucht aus Dresden. Häufig träumte Werner davon, die Wegstrecke ihres Großvaters nachzugehen. Jetzt, 79 Jahre später ab dem 1. Mai, unternahm sie diese Pilgerreise. Aus gesundheitlichen Gründen mit dem Fahrrad (wir berichteten).
„Ist das die Frau mit dem Fahrrad aus der Zeitung?“, fragte jemand. Denn die Wallfahrerin erreichte nach 650 Kilometern und 19 Tagen Hohenzell. Als sie beim leerstehenden Anwesen ihrer Großeltern in der Bellinger Straße 15 hielt, kamen Nachbarn und ließen sich von den Erlebnissen der Pilgerin berichten. Einige erinnerten sich noch an ihre Verwandtschaft. „Mit diesen Gesprächen ist alles richtig rund geworden“, meint Werner einige Tage später beim Besuch in ihrem Wohnort Poppenhausen.
„Ich war die ganze Zeit wie im Flow“, erzählt sie. Der Begriff erklärt ja die Erfahrung zwischen Euphorie und tiefer Zufriedenheit, die vom Verlust des Zeitgefühls und völliger Befreiung von Angst begleitet wird. Sie lebte einen streng alltäglichen Rhythmus, fuhr mit dem Rad durch die Orte und Landschaften, durch die ihr Opa zog und stellte sich oft vor, wie es ihm damals ging. Natürlich war sie eine „Forscherin“ auf den Spuren des Opas - jedoch die Wallfahrt bekam auch ihren Sinn in sich selbst.
Werner verschmolz mit der Natur, dagegen war das Fahren in Städten anstrengend. Zur „Halbzeit“ gab es in Naila einen Beinahe-Unfall: „Als mich das Auto streifte, war die Reise fast zu Ende“, gruselt sie sich. Im Allgemeinen empfand sie keine Angst, freundliche Hilfe erhielt sie jedes Mal bei der Suche nach einem Weg oder einer Unterkunft. Sie lernte Leute kennen, die meinten: „So etwas zu machen ist doch toll!“ Einmal traf sie einen Motorradfahrer, der die ehemalige Zonengrenze entlangfuhr. Die Tour plante er lange mit einem Freund, der aber plötzlich starb.
Diese andere Art des Reisens mit dem Rad, die Langsamkeit und Intensität, trugen zum Flow-Gefühl bei. „Die Seele kommt dabei mit“, sagt sie. Erstaunlich ist auch, was sie mit ihrem Projekt bei Leuten auslöste, manche erinnerten sich an die Kriegszeiten und erzählten eigene Geschichten. „Vielleicht waren es traumatische Erinnerungen, die durch mich ausgelöst wurden“, fragt sie sich.
Natürlich kam sie auch in geschichtsträchtige Landstriche. Aus dem Erzgebirge zogen sich die US-Amerikaner im Mai 1945 zurück, weil die zu besetzenden Gebiete in der Jalta-Konferenz festgelegt waren, die Russen kamen noch nicht. So organisierten die Bewohner selber sechs Wochen lang ihr Leben in der „Freien Republik Schwarzenberg“, der Autor Stefan Heym sah darin in seinem Roman „Schwarzenberg“ eine sozialistische Utopie.
Zum Abschied erklärt Barbara Werner, sie wolle die Leute ermuntern, Wünsche auszuleben: „Einfach machen!“ Dazu braucht es nicht viel, sie selbst hat kein E-Bike, trainierte nicht vor der Fahrt und nahm viel zu viele Sachen mit. Und erklärte: „Ich bin so glücklich, diese Tour gemacht zu haben!“
Fotos:
©. Barbara Werner / Nachbearbeitung Hanswerner Kruse