Begegnungen auf dem Kammweg vom Erzgebirge nach Thüringen, Teil 1
Thomas Adamczak
Erfurt (Weltexpresso) - Beginn des Gesprächs mit einer Frau, die gerade ihre sechs Schafe versorgt, welche auf einer Weide bei ihrem Bauernhaus stehen:
- Ein schönes Haus haben Sie!
- Ja, schon …
- Aber?
- Schön schon, aber es macht halt viel Arbeit. Der Garten, die große Scheune, die Schafe …
Sie erklärt mir das aufgeregte Blöken der Schafe. Die wollten auf sich aufmerksam machen, möchten auf eine andere Weide, vermutlich passe ihnen das Gras nicht mehr. Oder sich halt ein bisschen wichtig machen.
Sie kommt ins Erzählen. Sie sehe es Wanderern an, ob sie Lust hätten auf ein kleines Schwätzchen oder schnell weiter wollten. Ich habe Zeit und höre zu. Sie zeigt mir den Grenzverlauf zu Tschechien. Auf der tschechischen Seite hätten sie eine andere Rasse von Kühen, das Gras sei aber hüben und drüben dasselbe.
Sie kommt auf das Kriegsende zu sprechen. Die sieben Söhne ihres Großvaters. Alle Soldaten. Einer sei nicht zurück gekommen. Vermisst. Großmutter und deren Tochter, ihre Tante, hätten sich bei Kriegsende im Wald versteckt. Nur der Großvater blieb im Haus. Sie deutet auf das ansehnliche Bauernhaus. Ihre Großmutter und deren Tochter fanden ihn, nachdem sie aus dem Versteck im Wald zurück gekommen waren, in der Wohnstube. Er saß in seinem Sessel. Erschossen. Von russischen Soldaten.
Der Nachbar ihres Großvaters wollte Frau und Töchter nicht allein im Wald lassen. In ihrem Versteck wollten sie das Kriegsende gemeinsam abwarten. Der Bauer ließ die Frauen im Versteck zurück, während er nachts in das Dorf gehen wollte, um vom Bruder zu erfahren, ob die Rückkehr schon möglich oder noch zu gefährlich sei. Kaum hatte er sich vom Versteck entfernt, hörte er in unmittelbarer Nähe Schüsse aus der Richtung, aus der er kam. Er befürchtete das Schlimmste. Vom Bruder erfuhr er, dass der Krieg zu Ende sei. Er eilte zum Versteck im Wald, wo er die völlig verängstigten Frauen, die ebenso das Schlimmste befürchtet hatten, nur mit Mühe beruhigen konnte.
Zwei Familienschicksale am Kriegsende
Sie erzählt von ihrem Vater, der den Hof übernommen hatte. Zwei Parteimitglieder seien ihm 1962 zwei Tage lang nicht von der Seite gewichen. Sie sah den Vater mit diesen zwei Männern stundenlang über die Felder gehen. Endlich habe der Vater der Übernahme seines Hofes durch die LPG zugestimmt. Am nächsten Tag hätte der Vater gemeint, eigentlich wolle er zum Aussäen anspannen, doch er sei ja nicht mehr Herr auf seinem Hof und müsse warten, bis die von der LPG die erforderlichen Maschinen stellten. Ihr Vater, der Bauer, blieb also entgegen bewährter Gewohnheit an diesem Tag im Haus und wartete, eine Woche, zwei Wochen, unablässig den Kopf schüttelnd.
„Die Menschen – das sind die Geschichten, die sie erzählen“ (Günther Lange), kommt mir in den Sinn. Ich höre weiter zu. Sie erzählt von sich, ihrer Ausbildung als Gärtnerin, dass sie dem Vater nach der Wende auf dem Hof geholfen habe. Jetzt arbeite sie als Altenpflegerin.
Viel hat sie zu erzählen, die Frau. Und ihr Vater, er lebt nicht mehr, hätte auch viel zu erzählen gehabt. Und erst der erschossene Großvater! Ob der Großvater des russischen Soldaten, der geschossen hatte, auch von deutschen Soldaten getötet wurde, frage ich mich.
Bedauerlich, dass nicht hüben wie drüben Talkshows mit erschossenen Großvätern stattfinden. Und die Großmütter müssten ebenfalls zu Wort kommen. Die hätten was zu erzählen. Oder statt Talkshows besser Gespräche von getöteten Großvätern und Großmüttern nach der Methode des „Storytelling“, die der israelische Psychologe Dan Bar-On einsetzt, wenn er wechselseitiges Erzählen der persönlichen Lebensgeschichte von Palästinensern und Israelis initiiert, um gegenseitiges Verstehen und Einfühlung zu ermöglichen (siehe Ciompi/Endert; Gefühle machen Geschichte, S. 133). Und dabei sollten die Kinder und Enkelkinder und deren Kinder zuhören, den toten russischen und deutschen Großeltern.
Ich begegne einem Mann unweit der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Er hebt im Garten seines Hauses Äpfel auf. Erzählt von einem Fluchtversuch in unmittelbarer Nähe. Zwei Männern sei es gelungen, einen Teil der Grenzbefestigung zu überwinden, bevor sie entdeckt wurden. Der eine sei durch eine der Selbstschussanlagen verletzt liegen geblieben Kurz danach sei er von Grenzsoldaten abtransportiert worden. Nach dem zweiten wurde stundenlang gesucht. Dann sei ein Hubschrauber dicht über den Wald geflogen. Der dadurch bewirkte Druck habe den Flüchtigen gezwungen, sein Versteck in einer Baumkrone zu verlassen. Er sei regelrecht heruntergefallen.
Er erzählt, dass sich gelegentlich Fremde bei Einheimischen wie nebenhin nach dem Grenzverlauf erkundigt hätten. Natürlich habe man denen nichts gesagt, sondern den Vorfall, so nennt er das Ereignis, umgehend gemeldet. Sonst sei man dran gewesen. Spitzel also. Er erinnert sich an einzeln stehende Bauernhäuser und ganze Dörfer, die wegen des Grenzverlaufs niedergewalzt wurden. Zwangsumsiedlungen.
Zwei Gespräche als Beispiele von mehreren, die sich auf der vierzehntägigen Wanderung von Geising im Osterzgebirge nach Blankenstein in Thüringen einfach so ereignet haben.
Am dritten Tag der Wanderung habe ich den Einfall: Deutschland, das Land der Dichter, Denker und Lehrer. Fortsetzung folgt.