Serie: Unterwegs auf dem Alemannenweg, Teil 3/4
Thomas Adamczak
Wiesbaden (Weltexpresso) - Auf so ’ner Fernwanderung kann man sich bestens in der Kunst der Unterbrechung üben. Stehen bleiben sowieso, Unterbrechung des Gehrhythmus. Mich interessiert vor allem die Unterbrechung des Gedankenflusses durch äußere Eindrücke oder innere Vorgänge. Einfälle, Empfindungen, Assoziationen.
Ich kann bei einem Gedanken so lange bleiben, wie ich will. Wenn mir etwas anderes ein- oder auffällt, kann ich trotzdem bei dem ursprünglichen Gedanken bleiben, indem ich ihm den Vorrang einräume, oder ich folge einer neuen Spur. Dieser Spur oder einer anderen, noch einer usw. Ich kann immer wieder zurückkehren zu dem ursprünglichen Gedanken, wenn ich will. Ich entscheide, bin sozusagen der Herr meines Denkens, bilde ich mir wenigstens ein. Ein Bewusstseinsforscher würde mich womöglich eines Besseren belehren. Aber hier widerspricht mir niemand, nur ich kann mir widersprechen. Ich setze die Prioritäten.
Wohin mich meine Einfälle führen? „Am Galgen“ beschäftige ich mich mit den Gehenkten, ihren „kleinen Vergehen“, wenn es denn stimmt, was da steht. Ich sehe in meiner Vorstellung das üppige Gelage der Dörfler, die den neu errichteten Galgen bejubeln. Dazu höre ich, passend irgendwie, das einfältige Blöken der paar Schafe unterhalb der Stelle, wo der Galgen gestanden haben muss. Was stand bei dem Richtfest auf den Tischen? Welche Getränke, welche Speisen? Die Gespräche? Die Gespräche, wenn einige zu viel getrunken hatten? Natürlich haben die zu viel getrunken! Anders kann ich mir das nicht vorstellen. Haben die im Suff darüber geredet, wen es als nächsten erwischen könnte? Kannten die Mitleid? Aber die hatten ja alle gestanden, zwar unter Folter, aber ein Geständnis lag vor. Konnten die Leute die Todesstrafe gerecht finden?
Galgenfrist; Henkersmahlzeit! Gängige, geläufige Ausdrücke aus diesen Zeiten. Wie solche Worte sich herausbilden! Über Foltermethoden mag ich gar nicht nachdenken. Es fällt einem einiges ein, was mittlerweile entsetzliche Praxis ist. Rechtfertigungen finden sich allemal, hat es auch damals gegeben. Kann man sich hier, wo der Galgen stand, klar machen, dass Folter überhaupt nicht zu rechtfertigen ist. Die „kleinen Vergehen“ lassen mich nicht los. Wie viele der Verurteilten waren gänzlich unschuldig? Wie viele mögen die Strafe angenommen haben? Sind eigentlich auch Frauen gehenkt worden? Wofür die, wofür die Männer? Und die Summen für das Fest, Richtfest! 14 Gulden für den Galgen und im Vergleich dazu 99 Gulden für das Galgenfest. Was kostete eine gängige Henkersmahlzeit? Herumliegende Geschichten!
„Hohlwege im Löss – wertvoller Lebensraum“. Der Geo- Naturpark Bergstraße- Odenwald informiert auf einer der anschaulich gestalteten Tafeln darüber, welche biologischen Schätze die Lösswände im Odenwald bergen: Ruheplatz (für Schmetterlinge), Überwinterungsraum (für Wanzen, Käfer, Spinnen, Bienen), „Heizraum“ (für Heuschrecken, Fliegen, Eidechsen), Brutstätte (für Bienen, Wespen). Wissen Sie, wie viele Bienenarten es gibt? Nein? Ich hatte keinen blassen Dunst, dass es Fruchtbienen, Gemeine Sandbienen, Blauschillernde Sandbienen, Mörtelbienen und Vierfleck-Pelzbienen gibt. Wohlgemerkt im Odenwald. Wer weiß, was für Bienenarten es sonst noch gibt! Vielleicht sogar welche mit etwas originelleren Namen. Blumenabbildungen: Gold-Astern, Spanische Flagge (tatsächlich!), Gelber Zahntrost, Blut- und Storchschnabel. Fauna? Na klar: Großer Rosenkäfer, Laubholzsäbelschnecke. Bei jedem Namen für Pflanze, Tier kann ich mich unterbrechen und mir was einfallen lassen. Rosenkäfer? Wieso denn Rosenkäfer? Ach so! Aber Laubholzsäbelschnecke! Laubwald: Hier vor allem Traubeneichen- und Birkenwald. Traubeneichen? Wie kann man die sich denn vorstellen? Zu Hause mal googeln. Und Säbelschnecken? Mit dem Verantwortlichen für diese Bezeichnung möchte ich gern ein Interview führen. „Sehen Sie nicht den Säbel?“ Ich seh’ nix, was wie ein Säbel aussieht. „Ja aber, gucken Sie doch …“
Ein Gespräch ist eine andere Art von Unterbrechung, als wenn ich mir selbst ins Wort falle. Ich treffe auf drei ältere Wanderer, die sich mühen, sie betrachten eifrig Kartenmaterial, den Weg zu einem „Jugendlager“ zu finden. Ich muss schmunzeln. Wollen die in einem Jugendlager übernachten? Neuer Trend? Reaktion auf fehlenden Nachwuchs in den Wandervereinen? Ach so, das „Lager“ liegt auf ihrem Weg. Dreiergruppe. Gespräche zu dritt. Drei Stimmen, ständige Unterbrechungen! Also zuhören, sonst klappt’s nicht mit der Verständigung. Ob allein zu wandern nicht langweilig sei, meint der eine. Ich: „Sagen Sie das nicht, da passiert allerhand im Kopf, man muss nur ein bisschen die Ohren spitzen, damit man’s mitbekommt.“ Die beiden anderen nicken. Einer war unterwegs auf dem Jakobsweg.
Die Geschichten passieren beim Wandern. Eigene Geschichten, Geschichten von Leuten, die man zu hören bekommt, wenn man sich Zeit nimmt. In der Nähe von Michelstadt begegne ich auf einem Rastplatz neben der Straße einem Arbeiter des städtischen Bauamts. Er entfernt gerade Müll, der in unbeobachteten Augenblicken weggeschmissen wurde. Er deutet auf vier uralte Räder mit verrosteten Felgen. Die Reifen sind zerfetzt. Die werden jahrelang in einem Keller oder einer Garage gelegen haben und wurden vermutlich beim Umzug oder der Wohnungsauflösung auf Kosten der Allgemeinheit entsorgt. Im Bauhof müsse man 2 € für ein Rad zahlen. Um die zu sparen fahren Leute nachts in den Wald und pfeffern dort Räder, alte Matratzen, kaputte Schlauchboote und anderes Gerümpel aus dem Kofferraum. Auf dem Waldparkplatz sieht es um diese Zeit ja niemand!
Der Mann vom Bauhof regt sich nicht auf. Er könne ein Lied davon singen, was die Leute wegschmissen. Er könne die Menschen nicht ändern. Also schickt er sich in das offenbar Unvermeidliche. Ganz gelassen wirkt er. Wenn Tiere an- oder überfahren worden seien, werde er geholt. Die Kollegen haben Hemmungen, die schwer verletzten oder toten Tiere anzufassen. Blutige Sache sei das. Ihm mache es nichts aus. Er ist gelernter Metzger, wollte unbedingt schon als Kind Metzger werden und durch Vermittlung des Vaters habe das auch geklappt.25 Jahre hat er in einer kleinen Metzgerei gearbeitet. Als der Chef aufhören musste, hat er beim städtischen Bauamt angefangen, wo er mittlerweile 20 Jahre schaffe. Gefragt, welcher der beiden Lebensabschnitte für ihn befriedigender gewesen sei, muss er nicht nachdenken. Beide hätten ihre Vorzüge, beide sagten ihm zu. Nächstes Jahr sei Schluss. Die Arbeit sei ihm keine Last. Er sei gern Metzger gewesen, und der Job, den er jetzt habe, sei auch o.k. So’ne Begegnung macht Mut und bringt zum Nachdenken. Fortsetzung folgt.
Foto: Neukircherhöhe: Rundblick (c) Odenwald Tourismus
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