Die Entdeckung eines Tals: Das Ultental in Südtirol, Teil 4/10

 

Thomas Adamczak

 

Wiesbaden (Weltexpresso) - Sankt Helena und der Helener Pichl liegen ja auf einer Anhöhe. Wenn man eine Wandertour unternehmen möchte, geht es zwangsläufig erst einmal einige Meter nach unten. Der eine Wanderweg weist nach St. Pankraz, der andere führt hinunter zum Halsmannhof, einem Hof mit vielen Ziegen.

 

Von dort gibt es über einen kurzen, steilen Anstieg eine Verbindung zu dem Wanderweg, der zum Peilstein führt, einem weiteren Hausberg von Sankt Helena. Vom Helener Pichl aus ist er in knapp 4 Stunden zu erreichen. Außer dem Peilstein gibt es noch drei weitere Gipfel in unmittelbarer Nähe: Schwarzer, Dreihirtenspitze und Naturnser Hochwart. Von diesen Bergen aus kann man in den Vinschgau hinunterblicken. Sie sind mit einem Wanderpfad verbunden, so dass derjenige, der einen der Gipfel erklommen hat, über einen Kammweg mit kleineren An-und Abstiegen zu den anderen Gipfeln gelangen kann.

 

Über die Drei Seen, die auf einem Hochplateau zwischen dem Peilstein und dem Schwarzer liegen, kann mit dem Peilstein sogar noch ein vierter Berg erklommen werden, wenn man die Tour mit dem Hochwart beginnt. Unterhalb dieser Berge liegen mehrere im Sommer bewirtschaftete Almen: die Innere Falkomei, die Äußere Falkomei, die Mariolalm und die Staffelalm. Die Mariolbergalm ist vom Helener Pichl in einer knappen Stunde zu erreichen, etwas mehr als eine weitere kommt hinzu, wenn man weiter zu den Falkomeialmen oder zu der Staffelhütte geht. Grob geschätzt. Auf den Wegweisern stehen genaue Zeitangaben, doch die gelten für einen durchschnittlich schnell gehenden Wanderer. Was aber heißt in den Bergen schon durchschnittlich? Wer sich fit fühlt und das Leistungsprinzip verinnerlicht hat, geht vermutlich schneller. Wer nach innen hört, die Umgebung wahrnimmt und öfters stehen bleibt, um eine bestimmte Aussicht zu genießen, braucht länger, geht demzufolge langsamer. Körperliche Verfassung und Alter spielen gewiss auch eine Rolle.

 

 Die Aufstiege zur Inneren Falkomei-Alm und zur Äußeren Falkomei unterscheiden sich grundlegend. Zur Inneren geht es ganz allmählich das Kirchbachtal hinauf, bis man zum Fuß eines Abhangs kommt, über den ein Serpentinenpfad hoch zur Alm führt.

 

Zur Äußeren Falkomei geht es an einer Weggabelung unweit hinter der Mariol ziemlich steil nach oben. Hier wird sich unter weniger geübten Bergwanderern die „Spreu“ vom „Weizen“ trennen. Der stetige Aufstieg ist nichts jedermanns Sache. Der Weg zur Inneren Falkomei ist gemütlich, lädt zu kleineren Pausen am Bachlauf ein, und dabei kann der Wanderer zur entsprechenden Jahreszeit das strahlende Rot der Alpenrosen am Wegesrand und an den Hängen bestaunen. Beim Aufstieg zur Äußeren Falkomei gerät man, wenn das Tempo nicht deutlich reduziert wird, leicht ein wenig außer Atem. Bei diesem Aufstieg kommt der Wanderer an Kühen vorbei, die zur Alm gehören.

 

Kühe auf der Alm sind ein besonderes Kapitel!

Mit Vorliebe liegen sie direkt auf dem Wanderweg und denken nicht daran, diesen Platz für die nahenden Wandersleute zu räumen, es sei denn, man geht demonstrativ schnurstracks auf sie zu. Dann setzen sie sich in Bewegung. Lustig anzusehen, wie behände diese großen und schweren Tiere aufstehen können. Der Blick der Kühe! Teilnahmslose, desinteressierte, ausdruckslose, gelangweilte Augen. Ein gewisses Verständnis für diese Haltung der Kühe bekam ich, als ich mir versuchte klarzumachen, was diesen Tieren von uns Menschen zugemutet wird. Stellen wir uns doch gerade mal für einen Moment vor, wir würden den ganzen Tag und auch in der Nacht eine Glocke um den Hals hängen haben, die bei der kleinsten Bewegung bimmelt, läutet, also Krach macht, auch in der Nacht wohlgemerkt! Und wir müssten den gesamten Tag unermüdlich kauen, mampfen, kauen und wieder kauen. Warum? Damit wir gemolken werden können, möglichst viel Milch geben, und zwar Milch für diejenigen, die uns diese Tortur antun. So etwa wie diese Tiere, stelle ich mir vor, werden die Sklaven auf den Galeeren geblickt haben, werden sich Sklaven gefühlt haben, die für ihre Herren schuften mussten, ohne selber was von dieser Schufterei zu haben, wenn sie nach jahrelanger Fron jegliche Hoffnung, dass sich an ihrem Schicksal etwas ändern könnte, aufgegeben hatten.

 

Ich will an dieser Stelle nicht so weit gehen, dazu aufzufordern, weniger Milch zu trinken und Joghurt zu essen, aber appelliere an alle Bergbauern, den Kühen auf der Alm weniger schwere, weniger große Glocken umzuhängen. Außerdem plädiere ich dafür, einen bestimmten Tag im Jahr zum „Tag der Kuh“ zu bestimmen und an diesem Tag aus Solidarität mit diesen uns täglich beschenkenden Nutztieren eine festzulegende Stunde mit einer Glocke um den Hals herumzulaufen und dabei die Kaumuskeln zu bewegen, mit oder ohne Kaugummi.

 

Ich gehe gern allein auf die Berge, war mehrfach schon auf dem Peilstein, dem Schwarzen, auf Dreihirtenspitze und Hochwart. Das Alleingehen hat Vorzüge, womit nichts gegen das Gehen in Gruppen, kleineren oder größeren, gesagt sein soll, denn das hat selbstverständlich für bestimmte Wanderer ebenfalls Vorzüge.

 

Beim Alleingehen bist du radikal auf dich verwiesen. Wie schnell du angehst, entscheidest du. Wie du deine Kräfte einteilst, und die musst du in den Bergen einteilen, sonst geht irgendwann nichts mehr, entscheidest du. Ob du stehen bleibst, wie oft du stehen bleibst, ob du vor dem Gipfel Rast machst oder erst, wenn du oben bist, entscheidet niemand außer dir. Und was im Kopf passiert sowieso. Du kannst dich mit dir beschäftigen oder mit der Welt oder mit diesem oder jenem Kleinkram. Das Ich ist eine unerschöpfliche Quelle des Empfindens, des Denkens, des Nachdenkens. Der Unterschied von Denken und Nachdenken? Man denkt unentwegt, denkt schnell mal dies oder das, aber wenn man nachdenkt, über etwas Bestimmtes nachdenkt, wird es grundlegender, das Denken. Das Gedachte wird hin und her bedacht, hin und her gewendet, wenn ich will. Ich bestimme, ich ganz allein.

 

Das Denken bei einer Bergwanderung in den Alpen ist etwas anderes als das Nachdenken bei einer Wanderung im Mittelgebirge oder in der Ebene, zum Beispiel in der Uckermark. Die körperliche Anstrengung begrenzt die eigenen Möglichkeiten, auch des Nachdenkens. Wenn der Atem schneller geht, man den eigenen Herzschlag spürt, hat man genug mit dem nächsten Schritt zu tun. Kräfte einteilen, auf den Weg achten, nicht ins Stolpern geraten.

 

Wo geht der Weg weiter? Wo setze ich den Fuß an dieser Stelle hin? Wie komme ich an diesem Vorsprung am besten vorbei? Dem Stein besser ausweichen, auf diesen Stein den Fuß setzen? Gehe ich so oder so? Wohin trete ich, auf welchen der Steine, wie komme ich durch das Bachbett? Wie geht’s weiter? Blick nach vorn! Aha, so weit ist es also noch! So viel hab ich immerhin schon geschafft! Wechsle ich jetzt das Hemd oder erst mal nicht? Braucht’s jetzt schon die Windjacke, weil der Wind auffrischt? Mal wieder einen Schluck aus der Wasserflasche? Wie viel zu essen habe ich dabei? Ob es reichen wird? Muss ja! Hätte vielleicht einen Apfel mitnehmen sollen. Immer dasselbe, man weiß es ja vorher nicht, wie viel man braucht bzw. gern dabei hätte. Wie lange bin ich schon unterwegs? Hatte gedacht, dass …...

 

Der nächste Anstieg! Regelmäßige Schritte am Berg, ein Schritt nach dem anderen, ruhig atmen, nicht zu schnell werden, nicht stehen bleiben, die Schritte nach Möglichkeit nicht verlangsamen. Wenn ich langsamer werden muss, dann bin ich zu schnell angegangen, muss Tribut entrichten für zu schnelles Angehen. Der Gipfel ist wie ein Magnet. Da will ich hin. Da will ich hoch. Unbedingt oder, sagen wir mal, nach Möglichkeit. Nicht um jeden Preis, aber heute sollte es gelingen, heute bitte, heute schon. Komische Sache mit dem Ziel. Der Gipfel ist das Ziel, nicht für alle, aber doch viele der Bergwanderer. Da hoch will man, von da oben runtergucken. Ich war oben, will man sich sagen können. Um dann wieder runter zu gehen! Erstaunlich, dieses Phänomen: Man geht auf den Berg, auf diesen Gipfel, verweilt dort oben ein wenig, um dann notwendigerweise wieder abzusteigen. Zurück zum Ausgangspunkt.

 

Man ist mit sich, wenn man auf einer bestimmten Bergtour unterwegs ist, intensiv beschäftigt, und zwar in vielfältiger Weise. Noch nicht bin ich auf das eingegangen, was der Wandernde außerhalb von sich wahrnimmt. Die eigene Kleinheit am Fuße eines Berges.

 

Da will ich hoch? Ja, staune ich immer wieder über mich, das werde ich versuchen. Der Weg, der Boden des Weges. Waldwege, Bergpfade. Kein Asphalt: herrlich, einfach nur herrlich! Schotterwege? Höchstens anfangs, weiter unten, zum Glück kurze Strecken. Dann erdiger Boden, durchsetzt mit Wurzelgeflecht. Wege, die über Almen führen, Wiesenwege. Später, in der Höhe, immer mehr Steine, also steinige, felsige Wege. Bis zur Baumgrenze die Welt der Bäume. Oberhalb der Baumgrenze der Blick nach unten auf den Wald. Ganz anders wirkt der Wald von hier oben aus.

 

Was kommt, wenn ich weiter hoch steige? Was sehe ich, wenn ich zurückschaue? So viel schon geschafft! Wie lange werde ich noch bis dorthin brauchen, bis dahin, wo der Weg abbiegt, die großen Felsbrocken liegen, der Wegweiser steht? Vermutlich so viele Minuten? Und dann: Hat ungefähr gestimmt, hat überhaupt nicht gestimmt, ich habe mal wieder länger gebraucht. Oder: Richtig flink geht es heute! Prima!

 

Wann werde ich oben sein? Ungefähr? Weiter, immer weiter!

 

 

Foto 1: Blick vom Helener Pichl, © Karl Laimer

Foto 2: Blick Richtung Innerfalkomei Alm; © Ulla Wendorff

Foto 3: Edelweiß am Hochwart; © Ulla Wendorff

 

INFO: Ultental und Deutschnonsberg in Südtirol

Gemeinde Ulten
St. Walburg, 39
I-39016 Ulten (BZ)
Tel. +39 0473 795 321
www.gemeinde.ulten.bz.it

Tourismusverein Ultental
Hauptstrasse, 104
I-39016 St. Walburg, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 795 387
www.ultental-deutschnonsberg.info

Schwemmalm - Ski- und Wandergebiet im Ultental

Schwemmalm
Dorf, 154
I-39016 St. Walburg/Ulten, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 795 390
www.schwemmalm.com

Ultner Talmuseum: St. Nikolaus, 107
I-39016 Ulten, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 790 374

Für zusätzliche Informationen zur Ferienregion Meraner Land können Sie den Tourismusverband Meraner Land besuchen:

Tourismusverband Meraner Land
Gampenstrasse, 95
I-39012 Meran, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 200 443
www.meranerland.com