Die Entdeckung eines Tals: Das Ultental in Südtirol, Teil 7/10

 

Thomas Adamczak

 

Wiesbaden (Weltexpresso) - Beim Hasenohr (3275 m), auch ein feiner Aussichtsberg, dessen Gipfel bedauerlicherweise selten völlig wolkenfrei ist, kann ich mich mit dem Namen nicht anfreunden. Anderen mag das anders gehen. Der Zutritt, auf den ich unbedingt wenigstens einmal steigen wollte, weil er der höchste Berg im Tal ist (3439 m), gefällt mir nicht übermäßig.

 

Schön ist der Aufstieg bis zur Höchster Hütte, aber danach geht man fast nur noch durch Geröllhalden, Geröllfelder. Riesige Steinklötze, Felsbrocken. Keine Vegetation mehr, nur noch steinige, felsige Landschaftsbilder. Während ich aufsteige, flattern Wolkenhaufen um den Gipfel herum. Ein vor Anstrengung herausgepresster Stoßseufzer, dass die Wolken weichen mögen. Wer weiß, vielleicht hilft es ja. Da, jetzt ist der Gipfel frei! Doch Sekunden danach hängt er wieder in einem Wolkensack. So geht es mehrfach, als ob man angespornt werden soll, entweder gefälligst ohne Unterlass um Einsicht der Berggötter oder um die des Wettergottes zu flehen.

 

Vor dem allerletzten Anstieg, wer schon auf dem Zutritt war, weiß, wovon ich spreche, nichts als Nebel. Vor mir Schnee. Keine Ahnung, wie der Weg ab hier verläuft. Mist! Jetzt zurück? Mir wird kaum etwas anderes übrig bleiben. Plötzlich kommen aus dem Nebel zwei Bergwanderer, offensichtlich vom Gipfel. Doch, meinen sie, man könne gefahrlos weiter gehen. Sie zeigen mir, wie der Weg verläuft. Ich sehe ihre Fußspuren. Oben gebe es befestigte Seile. Also weiter. Dann bin ich oben. Endlich! Schönschön. Kurze Freude, dass ich’s geschafft habe, und in dem Moment, quasi zur Belohnung für all die Anstrengung, öffnet sich die Wolkendecke. Das Himmelsblau winkt mir zu. Ich zähle auf die Schnelle ein paar Sonnenstrahlen, strahle pflichtschuldig zurück, bestaune die Aussicht und stecke -oh wie schnell das geht! - unter einer nächsten Wolkenglocke. Wer weiß, wann die den Gipfel frei lässt. Also abwärts. Wieder durch die felsige Landschaft.

 

Mir sagen vor allem Berge mit einer Höhe von 2200-3000 m zu, höhere weniger, weil mir bei denen das Grün der Bergvegetation fehlt. Ausgesprochen sympathisch sind mir die Gipfel, von denen aus man noch auf einen oder zwei weitere gehen kann, weil es zu denen eine direkte Verbindung gibt. Auf einen Berg zu steigen, um dort oben ein Weilchen zu verbringen, dann aber sofort wieder abzusteigen, ist ja schon irgendwie schade. Man fühlt sich ein wenig wie Sisyphos, kommt ins Nachdenken über die Vergeblichkeit menschlicher Anstrengung und Camus’ verblüffende Einsicht, Sisyphos müsse man sich als einen glücklichen Menschen vorstellen.

 

Wenn du endlich oben stehst und siehst von dort aus einen benachbarten Gipfel, den du, weil du noch einigermaßen fit bist, leicht, so kommt es dir vor, erreichen kannst, dann kann man den Blick in und von der Höhe aus ohne Gedanken an den Mythos von Sisyphos genießen. Auf der Südseite vom Ultental gibt es ein Quartett von Gipfeln, das es ermöglicht, mehrere Stunden auf Gipfelhöhe zu verbringen. Zwischen St. Pankraz und Sankt Walburg führt die erst seit wenigen Jahren zu befahrene Straße durch mehrere Tunnel zum Deutschnonsberg, einem Hochtal mit den Ortschaften Proveis, Laurein, St. Felix und Unsere liebe Frau im Walde, das an das italienischsprachige Trentino grenzt. Auf dem Hofmahdjoch, bevor es hinunter nach Proweis und Laurein geht, ist ein hinreichend großer Parkplatz, von dem aus ein Wanderweg zum Kleinen Kornigl (2311 m) führt. Und von diesem leicht zu besteigenden Berg führt auf der Höhe ein Pfad zum Spitzner Kornigl, der etwa 100 m höher ist. Dafür ist eine kleine, für Schwindelfreie unschwere Kletterpartie erforderlich.

 

Großartig, nacheinander auf diesen Kornigl-Geschwistern zu sitzen und die jeweilige Aussicht zu genießen. Das Wetter ist unübertrefflich. Keine einzige Wolke zu sehen. Blauester Himmel. Dieser Superlativ muss sein! Nach der zweiten Rast auf einem Gipfel fühlst du dich ausgeruht. Zeit ist noch, sagt der Blick auf die Uhr. Also weiter über den Kamm zum Schöngrub (2459 m). Wieder ein gebührendes Päuschen und wieder völlig neue Blicke in die Tiefe und zu der Unmenge umliegender Gipfel. Je höher man kommt, desto mehr tauchen bis zum Horizont auf. Zu trinken hast du noch, und ein Stück Ultner Brot und Käse findet sich auch im Rucksack. Dieser überwältigende Blick hier oben! Wäre es nicht schade, wenn du jetzt runtergingst?

 

Es gibt zwei Möglichkeiten für den Abstieg. Entweder direkt über den Grat zum Weg Nummer 10 oder weiter über den Kamm bis kurz vor den Wegweiser, bei dem der 22er Weg aus dem Ultental auf den Kamm stößt, und von da dann über den Weg Nummer 10 hinunter zur Cloz- oder Revo-Alm. Danach ist es nur noch eine halbe Stunde bis zum Hofmahdjoch, wo das Auto steht. Oder, das ist die ziemlich verlockende Perspektive, weiter über den Kamm mit grandioser Sicht in das rechts befindliche Ultental oder nach links zum Nonsberg-Hochtal und dann hinauf zum Ultner Hochwart (2627 m). Entscheidungshilfen? Nach wie vor kein Wölkchen! Zeit könnte, sollte, müsste eigentlich ungefähr ausreichen. Was sagen die Beine? Die melden, was dir gar nicht passt, erste Bedenken an. Mist, das Übliche: Wieder einmal zwei Stimmen, die durcheinander auf dich einquatschen.

 

Sei doch nicht blöd. Der Tag war doch auch so bislang sehr schön. Warum willst du dir denn das noch zumuten? Du kannst doch von hier aus ganz gemütlich runtergehen, dir dabei Zeit lassen, den Abstieg richtig genießen.

Die andere Stimme: Blödsinn! Sei kein Feigling! So’ne Chance bietet sich nicht so schnell wieder. Guck doch mal zum Hochwart hoch. Den schaffst du locker, kannst dir dabei doch Zeit lassen. Wenn du merkst, dass es zu anstrengend wird, kehrst du einfach um.

Die erste Stimme: Du weißt genau, dass du, wenn du erst einmal das Seil in der Hand hältst, nicht umkehren wirst. Du kennst dich doch. Sei vernünftig.

 

Wie sich entscheiden, wenn derartig gegensätzlich auf einen eingequasselt wird? Immer wieder musst du entscheiden, wenn du in den Bergen unterwegs bist. Ja oder nein, das ist die Frage, die sich ständig stellt.

 

Beide Entscheidungen sind in dem Moment, wenn man sie trifft, erst einmal richtig. Im Nachhinein zeigt sich, ob eine evtl. falsch war, und dann sagt man sich fälschlicherweise oft, dass man das vorher hätte wissen können.

 

Schadenfroh kann im Nachhinein immer eine der Stimmen sagen: Hättest du nur auf mich gehört! Selbst schuld!

 

Der Hochwart (2627 m) ist allemal lohnend für eine Besteigung. An ein paar Stellen ist der Weg auf dem letzten Stück mit Seilen versehen, weil ein zusätzlicher Halt erforderlich ist. Endlich der letzte Anstieg. Dann kannst du zum vierten Mal an einem einzigen Tag von einem Gipfel hinunterschauen. Gucken, gucken, gucken. Und nebenhin, mit einer gewissen Genugtuung, auf die inneren Stimmen hören. Die eine hält zwar momentan die Klappe oder murmelt nur ganz leise Unverständliches, aber die wird sich beim Abstieg melden, falls es beschwerlich wird. Die andere Stimme wirft sich förmlich in die Brust und trompetet besserwisserisch: Na siehste!

 

Abstieg. Vorbei an der Kesselalm, an der oberen Kesselalm. Im Brunnen vor der Alm liegen im kühlen Wasser Bier-, Wein-, Limonadenflaschen. Daneben eine Milchkanne, in die der Wanderer die erbetenen Münzen werfen soll. Die Milchkanne ist fest verankert, um niemanden in Versuchung zu führen. Hier oben, auf einer solchen Höhe, dürfte Ehrlichkeit, sollte man meinen, eine Selbstverständlichkeit sein.

 

Eine knappe Stunde unter der Kesselalm liegt die Untere Kesselalm, wo es den besten Apfelstrudel weit und breit gibt. Die Marendeplatte mit reichlich Speck und Almkäse und Kaminwurz ist ebenfalls zu empfehlen. Heidi, die Wirtin, die auf jeden Tisch drinnen wie draußen einen an Buntheit kaum zu überbietenden Blumenstrauß stellt, jeden Tag einen frischen, lässt sich, wenn nicht gerade zu viele Gäste ihre Wünsche äußern, Zeit für einen Plausch. Einmal erzählt sie von ihrer eigenen Kindheit im Ultental, der Angst, die sie als Kind vor Gewittern hatte, wenn sie ganz allein bei den Kühen auf der Alm war und es furchterregend blitzte und donnerte. Das letzte Stück zum Parkplatz, die letzten Meter an diesem Tag. Vier Gipfel! Freude, den ganzen Tag schon. Jetzt eine andere Art von Freude als während der Bergtour.

 

 

Foto 1: Grünsee mit Blick in die Bergwelt, © Ulla Wendorff

Foto 2: Proveis und Umgebung, © Tourismusverein Deutschnonsberg

 

 

INFO: Ultental und Deutschnonsberg in Südtirol

Gemeinde Ulten
St. Walburg, 39
I-39016 Ulten (BZ)
Tel. +39 0473 795 321
www.gemeinde.ulten.bz.it

Tourismusverein Ultental
Hauptstrasse, 104
I-39016 St. Walburg, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 795 387
www.ultental-deutschnonsberg.info

Schwemmalm - Ski- und Wandergebiet im Ultental

Schwemmalm
Dorf, 154
I-39016 St. Walburg/Ulten, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 795 390
www.schwemmalm.com

Ultner Talmuseum: St. Nikolaus, 107
I-39016 Ulten, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 790 374

Für zusätzliche Informationen zur Ferienregion Meraner Land können Sie den Tourismusverband Meraner Land besuchen:

Tourismusverband Meraner Land
Gampenstrasse, 95
I-39012 Meran, Südtirol, Italien
Tel. +39 0473 200 443
www.meranerland.com