Unterwegs im Harz auf dem Hexen-Stieg, Teil 5

Thomas Adamczak

Quedlinburg (Weltexpresso) - »Glaube mir, denn ich habe es erfahren, du wirst mehr in den Wäldern finden als in den Büchern.  Bäume und Steine werden dich lehren, was du von keinem Lehrmeister hörst.«  (Bernhard von Clairvaux)


Wie nehmen wir normalen Menschen die Phänomene der Natur wahr, wie ein Dichter vom Range Heines?
Ach du liebe Güte, da gilt es zu differenzieren. Heine gibt in der »Harzreise« einen wichtigen Hinweis: die Natur bringe mit »wenigsten Mitteln die größten Effekte« hervor und ähnele damit den »großen Dichtern«. Die Natur bestehe ja eigentlich nur aus »Sonne, Bäumen, Blumen, Wasser und Liebe«, wobei die Liebe die entscheidende Zutat sei.
Bäume könnten als Heizmaterial gesehen, Blumen nach Staubfäden klassifiziert werden und als das Wesentliche des Wassers könne angesehen werden, dass es halt »nass« sei. Erst der liebende Blick des Betrachters ist offen für die Schönheit der Naturphänomene. Und die Dichtkunst vermag es, einen »Frühling, der nicht abblüht«, wie  Börne schreibt, in Sprache zu bannen. Wir haben das weiter oben schon ausgeführt.

Dafür ein kleines, eindrucksvolles Beispiel: es ist der Beginn der Harzreise auf dem Weg von Osterode nach Klaustal. Der Weg führt bergauf und »von einer der ersten Höhen schaute ich nochmals hinüber in das Tal, wo Osterode mit seinen roten Dächern aus den grünen Tannenwäldern hervorguckt wie eine Moosrose.« An der Stelle, an der Heine auf Osterode zurückgeschaut haben könnte, steht heute eine Tafel, die auf Heines Metapher »Moosrose« aufmerksam macht.

In Osterode findet sich der Vokal o zweimal, in der Moosrose sogar dreimal, auch wenn das eine O nur im Schriftbild, nicht aber hörend ausgemacht werden kann.
Wie mag Heine auf diese Metapher gekommen sein?
Moos, so stelle ich mir vor, wird er bei der Wanderung häufig wahrgenommen und auf sich wirken lassen haben. Die roten Dächer Osterodes als Rose zu sehen, ist verblüffend, aber durchaus einsichtig, wenn man lange genug die Fantasie spazieren gehen lässt beim Blick auf die Dächer von Osterode. So ist es wohl passiert: das eigentlich nicht Zusammengehörende,  Moos und  Rose, wurde in einem kreativen Gedankenblitz zusammengedacht und als Sprachstempel vom Hügelblick aus Osterode aufgedrückt.

Heine hat in mehreren Textstellen auf Moos hingewiesen und hübsche sprachliche Formulierung dafür gefunden (siehe oben).

Gelegentliche Empfindung  innerer  Freude beim Blick auf Feld, Wald und Flur mag bei vielen Menschen ähnlich sein, der Dichter aber schnipst mit den Fingern und findet einen passenden poetischen Ausdruck, ein »Zauberwort«, und schon sind diese Empfindungen wie in Stein gemeißelt.  Staunend murmele ich, als ich auf der Anhöhe stehe: Donnerwetter, das sieht  tatsächlich aus wie eine »Moosrose«.

Welche Begegnungen sind in solch einem Bericht, jetzt meine ich meinen eigenen, mitteilenswert? Diese Frage werden Leser, Leserinnen beantworten. Der Autor entscheidet zunächst einmal, ob er eine bestimmte Begegnung aufnimmt. Er trägt das Risiko der Wirkung. Die Leserschaft kann wohlwollend nicken, energisch den Kopf schütteln oder bedächtig den Kopf wiegen.

Was meinen Sie zu folgender Begegnung? Entscheiden Sie!

Osterode. Beginn der Wanderung. Ich stehe in der Apotheke, will mir schnell noch prophylaktisch Pflaster besorgen. Ein Mann tritt ein, bleibt neben mir stehen, spricht eine Frau an, die gerade mit einem Wischtuch die Ladentheke säubert. Er habe Durst, wolle sich was zu trinken kaufen. Sie hebt, wie mir vorkommt, beschwichtigend die Hände, kommt kurz danach mit einem Glas Wasser. Der Mann setzt sich in der Apotheke auf eine Bank, trinkt das Glas Wasser. Nachdem ich bezahlt und die Apotheke verlassen habe, begegne ich ihm vor der Apotheke. Er spricht mich an. Er sei aus Russland. War Soldat. Die russischen Soldaten marschierten heute noch so, wie es ein deutscher Offizier vor langer Zeit in Russland eingeführt hätte. Er beschreibt mir die Technik des Marschierens bei langen Fußmärschen. An meiner Kleidung, dem Rucksack, den Wanderstiefeln hatte er mich als Wanderer identifiziert.

Fünfzehn Jahre sei er schon in Deutschland. Arbeite in einer Behindertenwerkstatt. Sei nämlich zu 50 % schwerbehindert. Wegen psychischer Probleme. Die Frau in der Apotheke sei eine seiner fünf Schwestern. Die kümmerten sich alle fürsorglich um ihn.

Fünfzehn Jahre ist er hier, geht mir durch den Kopf. Ich biete, er war ja russischer Soldat, Afghanistan und Tschetschenien als Stichworte an. Er: Afghanistan! Den Russen sei es wie den Engländern ergangen, und die Amerikaner hätten dasselbe erfahren. Dieses Land sei militärisch nicht zu besiegen. Es sei denn, er zögert kurz,  kommt dann auf Hitler zu sprechen. Adolf Hitler hätte gezeigt, wie es gehe. Ein Vernichtungskrieg mit totaler Vernichtung des Gegners wäre in solch einem Land ein Weg, aber der könne den Soldaten nicht zugemutet werden. Aus Gründen der Moral!

Sagenhaft, denke ich, der fühlt  noch als Soldat, denkt ganz vom Soldaten aus. Dem Soldaten sei ein Vernichtungskrieg nicht zuzumuten, und zwar moralisch nicht! Der Mann sieht die potentiellen Täter, erwähnt die Opfer überhaupt nicht. Ich frage nicht nach. Verabschiede mich, halte für mich fest: Erste verpasste Gelegenheit!

Ich sitze im Wald. Auf einem Baumstumpf. Pause, kleine Pause. Brötchen aus dem Rucksack. Wasserflasche. Paar Stunden schon bin ich unterwegs. Pause halt. Sich stärken, innehalten.

Ein Hund kommt in Begleitung eines Mannes. Die Hunde sind meist die Hauptpersonen, die Besitzer begleiten sie oft nur. Der Hund schnüffelt rum. Riecht er die Wurst auf dem Brötchen? Der Mann redet auf seinen Hund ein. Das ist üblich. Dem Hund wird gesagt, halbherzig, dass er den Wanderer in Ruhe lassen solle. In der Regel hören die Hunde nicht auf das, was sie gesagt bekommen, so dass die Besitzer sich wiederholen können, die Stimme dabei variieren. Geht es nach dem  Hundehalter, bringt man für jedes Verhalten seines Hundes Verständnis auf. Am besten guckt man freundlich, gönnt dem Hund ein paar nette Worte. Motto: Ist ja nicht schlimm, dass du nach meiner Brotzeit schnappst, an meiner Hose schnüffelst, an mir hochspringst, die Zähne bleckst.

Endlich zieht der Mann seinen Hund ein wenig an der Leine zurück. Er will mit mir reden, also muss der Hund spuren. Der Mann redet, redet eine ganze Weile im Stehen, während ich auf dem Baumstumpf sitzen bleibe, was den Mann nicht zu stören scheint.

Arbeitslosigkeit mit fünfzig Jahren. Erzwungener Ruhestand. Bei der Allianz hat er gearbeitet. Versicherungsbranche. Arbeitslos von heute auf morgen. Etwas mehr als siebenhundert Euro Rente. Frage von mir: Wie er davon leben könne? Er beruhigt mich. Kein Problem! Seine Frau leite einen Kindergarten. Sie hätten genug Geld, könnten sogar jeden Monat Ersparnisse zurücklegen. Sie haben ein eigenes Haus. Doch er will nicht beim Positiven bleiben, will meckern, schimpfen, wettern. Der Wald würde vernachlässigt. »Sehen Sie sich doch bloß um!« Alles sei zu wenig gepflegt. Wieso denn das, schießt mir durch den Kopf. Wanderer gebe es übrigens kaum noch. Er sei quasi ne Ausnahme. Geht jeden Tag mit seinem Hund eine feststehende Tour. Hier im Wald. In Wernigerode wohnt er.

Dann das Feindbild Nummer eins: der Kapitalismus! Sie hätten es in der DDR zu hören bekommen, immer wieder, bis es ihnen zum Halse herausgekommen sei. Hätten es nicht geglaubt, glauben wollen. In der Realität sei es schlimmer. Der Kapitalismus bringe die gewohnten Lebensverhältnisse zum Einsturz.

Hauptfeind Nummer zwei: der Islam! der Islam als Gefahr für Westeuropa.

Ein AfD-Wähler, vielleicht gar ein Pegida-Anhänger? Ich bleibe sitzen.
Der Mann leiert seine fremden- und islamfeindlichen Grundüberzeugungen runter. Ist nicht  zu bremsen, wirkt völlig überzeugt, dabei keineswegs unsympathisch, wenn ich sein Brusttongesicht auf mich wirken lasse, ohne das Gesagte zu beachten.

Aus einer Million junger Asylsuchender würden in kürzester Zeit zehn Millionen! Die würden ja ihre Familie nachholen.
Zwei Söhne hat er. Der eine ist Arzt, in der Nähe von Husum. Der andere, Lehrer, unterrichtet an einer Schule für Sehbehinderte in Halle. Fünf Enkelinnen. Um die hat er Angst. Um die geht‘s ihm. Angst, dass die vergewaltigt werden. Massenvergewaltigung. Wie in Köln, da sei es ja beinahe dazugekommen. Beabsichtigt gewesen wäre eine Massenvergewaltigung. Die Presse verschweige das. Lügenpresse sagt er, und ich kann kaum noch ruhig auf dem Baumstamm sitzen. Er nennt Internetseiten, auf denen man sich „richtig“ informieren könne. Holt sein Smartphone raus, um mir einige zu zeigen.

Was hätte Heine solch einem Mann gesagt?
Ich frage ihn, was seine Frau zu seinen Überzeugungen sage. Die sei »neutral«. Die Söhne widersprächen ihm. Er sei verbohrt, würde übertreiben, kriegt er zu hören. Doch er, der Vater, weiß es besser. Wenn er vom Himmel aus mal auf die Erde runter schauen und dann erleben werde, leider, dass er mit seinen Prophezeiungen recht gehabt hätte, würden die Söhne Abbitte leisten müssen, dem Vater endlich Recht geben. Der Vater, ihr Vater, hätte es schon immer gesagt, dass es so kommen werde. Das wünscht er sich. Das wäre die Genugtuung, die er sehnlichst erhofft.

Versicherungsvertreter war der Mann. Mir will er keine Police schmackhaft machen, sondern seine rechtspopulistischen Ressentiments. Heine hilf! Hättest du den auch veralbert? Mit einer erfundenen Geschichte?

Ich entschließe mich, nichts zu sagen. Hätte nichts gebracht, versuche ich mich zu beruhigen. Doch hinterher fällt mir, das passiert einem ja gelegentlich, doch das eine oder andere ein, was ich hätte sagen können, ja sagen sollen.

Im Grundgesetz steht nichts über die Zusammensetzung der Bevölkerung, es sagt aber sehr wohl etwas über die Unantastbarkeit der Menschenwürde.

Oder: Islam und Demokratie schließen sich keineswegs aus. Es gibt islamische Länder, wenn auch zu wenige, die eine demokratische Verfassung haben.

Oder: Gerade habe ich ein Interview mit einer islamischen Feministin gelesen, für die es um strategische Wege gegen patriarchalische Strukturen in muslimischen Gemeinden und paternalistische Ideen im Westen geht und um die Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit. Die Palästinenserin Lana Sirri fordert „glaubensbasierten Einspruch“ bei Koranpassagen, die Frauen gegenüber herabsetzend klingen. Fortsetzung folgt



Foto: Ausblick am Wanderweg zwischen Königshütte und Rübeland©Augustus Tours

Info: https://www.augustustours.de/de/wanderreisen/harz.html