Heinz Markert
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der Martin Luther King-Park und das umfangreiche Gebiet der Ernst Reuter-Schule waren mal wie eine Einheit. Da ich als Student in den Siebzigern in Heddernheim wohnte, ging ich gern zu Fuß in den Martin Luther King-Park, um dort den Blick über den Teich schweifen zu lassen.
Die nächstgelegene Ernst Reuter-Schule ist jetzt über 55 Jahre alt - so lange ist das jetzt alles schon her.
Aufnahmen aus der Anfangszeit von 1964 (also gut 10 Jahre vor meiner Zeit) sind zu sehen als hier die ersten 400 Kinder eingeschult wurden. Die Schule war „ein Pilotprojekt für ein neues Denken in der Bildungspolitik“, ohne dass Begriffe wie Integration und Inklusion schon in Gebrauch waren. Noch heute ist diese Schule ein Erfolgsmodell, da Kinder mit und ohne Migrationshintergrund, mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam in diese Schule gehen, um gemeinsam voneinander zu lernen. Die Ernst Reuter-Schule war eine Einrichtung der wechselseitig kompensatorischen schulischen Entwicklung in Sprache und Lernprozessen.Das Trauerspiel
Heute ist sie dem Verfall preiseigegeben, weil die ignorante Frankfurter Politik der herrschenden Parteien sie abgeschrieben hat.
Das verfallene Schulschwimmbad des Jahres 2020 erscheint wie eine lang schon verlassene Ruine, der Archiv-Film zeigt sie als wäre sie aus der Sozialreportage eines verarmten Landes entsprungen. Der Magazinbeitrag erläutert, wie das Schwimmbad seit 10 Jahren geschlossen ist, obwohl es zuvor noch behindertengerecht umgebaut wurde. Die Schülerin Allegra, die im Sommer den Campus nach abgelegtem Abitur verlässt, kennt das Schwimmbad nicht anders, wie überhaupt die ganze Schule sie als extrem sanierungsbedürftig betrachtet. Am vormals vorbildlich modernen Hauptgebäude des Campus der Ernst Reuter-Schule II ist der Abfall der Kacheln schon weit fortgeschritten. Das wirkt grotesk. Die Schule hätte längst in ihrer Gänze saniert werden müssen, urteilt ein völlig frustrierter Schulleiter, der um Würde bemüht ist, wenn er über die Zustände an seiner Schule Auskunft gibt.
Schülervertreterin Allegra beschreibt, wie sich der Niedergang schon über Jahre hinzieht, nicht nur seit 2 oder 5 Jahren, sondern schon ganze Jahrzehnte. In dieser Weise fühle man sich „komplett hinten dran gelassen, von der Politik, von der Stadt besonders“.
Der Bildungsforscher Andreas Schleicher erklärt: „Wenn Sie als Schüler aus einem ungünstigen sozialen Umfeld kommen, dann haben Sie nur eine einzige Chance im Leben: und das ist eine gute Schule, gute Lehrer. Wenn Sie dieses Boot verpassen, sehen sie meistens keine Chance mehr“. Deswegen, so der Forscher, sei es wichtig, dass die Ressourcen einer Schule quantitativ wie qualitativ den besten Einsatz finden, „dass wirklich alle Schüler von einem ausgezeichneten Umfeld profitieren können“. Aber leider verfallen gegenwärtig zahllose öffentlichen Schulen im ganzen Land, so auch diese legendäre Ernst Reuter-Schule. Ihr Sanierungsstau belaufe sich inzwischen auf 100 Mill. Euro.
Privat vor öffentlich
Indessen sei dieser Schule vor 18 Jahren die Europäische Schule vor die Nase gesetzt worden. Diese ist eingezäunt und bewacht, während die Ernst Reuter-Schule als offener Erlebnisraum mit Garten angelegt ist, der jetzt gleichzeitig mit der Bausubstanz verfällt. So erhielten die Kinder der Banker ihre eigene Schule, finanziert vom Bund und der EU. Aber auch sie ist ein Provisorium, besteht aus angemalten Containern und Modulen. Daher versprach die Stadt dem Direktor der Schule bei ihrer Eröffnung 2002, eine richtige Schule am eigenen Standort zu bekommen, aber auch das blieb ein Versprechen. So bleibt die eine Schule ein Provisorium, während die andere sich im Zustand der „augenfälligen Verwahrlosung“ - so der Magazin-Kommentar - befindet.
Eine Schule der Zukunft ins Abseits gestellt
In der privaten wie der öffentlichen Schule wachsen die Schülerzahlen rasant. Es droht Eskalation. Der Europäischen Schule ist daher ein Ersatz zugesprochen worden in Gestalt eines gigantischen 5-stöckigen Gebäudeensembles, das vom Frankfurter Baudezernenten Jan Schneider erdacht wurde - auf Kosten der Ernst Reuter-Schule. Er sei ein großer Freund von Baumassen und Beton, wird erzählt.
„Und so macht in Frankfurt der Baudezernent Bildungspolitik, hilfsweise. Sein neues Konzept kam zu jener Zeit an die Öffentlichkeit, als Christine Lagarde ihr Amt als neue EZB-Präsidentin antrat“ (vom Magazin gesprochen).
Herabgestuft von einem technokratischen Verwaltungsbürokraten
Düpiert ist auch Bildungsstadträtin Silvia Weber, deren Proteste bislang ohne Wirkung blieben. Jedoch: sie will jetzt doch „den Aufstand wagen und beschwört die lang versprochene Sanierung“, nach der bekannten Devise: „Ich verspreche und sorge dafür...“.
Allegra tut einen ihrer letzten Gänge durch eine Unterführung der Ernst Reuter-Schule, in ihrem Rücken taucht wieder die lange Wand mit den heruntergefallenen Kacheln auf. Ein Schaudern überläuft einen. Und ein Abscheu überkommt einen. Ein neues Versprechen kommt für sie zu spät. Sie schreibt schon an ihren Abi-Klausuren. „Neun Jahre hat sie in einem Sanierungsfall verbracht“, lässt das Magazin sie sagen. Nur zu einer letzten Einschätzung lässt sie sich noch motivieren: „Es ist halt schon traurig, dass ausgerechnet Bildung das ist, was unser Land später formen wird – was aber sowohl dann auch eigentlich für die Politik sehr interessant sein sollte, die die Wähler formt - dass unbedingt das hängengelassen wird“.
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Info:
Hauptsache Kultur, 'Gleiche Chancen für alle? – Wie die Politik Bildungsungleichheit verschärft', hr 28.02.2020