Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Im Grundgesetz wird in Artikel 9 die Koalitionsfreiheit garantiert.
Arbeitnehmer und Arbeitgeber können sich organisieren und miteinander Verträge abschließen über Arbeitsentgelte, Arbeitszeiten und betriebliche Besonderheiten, soweit diese nicht durch gesetzliche Vorschriften verbindlich geregelt sind (z.B. Mindestlohn, Mindesturlaub, Arbeitsschutz etc.). Auch die Vertragsfreiheit ist gemäß Artikel 2, Absatz 1 des GG geschützt. In den einschlägigen Kommentaren, die auf der Basis höchstrichterlicher Entscheidungen die Rechtsentwicklung ausführlich wiedergeben, lese ich nichts Gegenteiliges. Nicht geschützt hingegen ist das Wirtschaftssystem. Die Verfassung erlaubt theoretisch sowohl Kapitalismus als auch Sozialismus, sofern diese ihrem jeweiligen Wesen nach nicht gegen Grundrechte und Gesetze verstoßen.
Die Auffassung der sechs Verfassungsrichter (zwei haben eine abweichende Meinung vertreten), das Grundgesetz enthalte „kein Recht auf absolute tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen“ billigt einem Interessenskonflikt im kapitalistischen System Verfassungsrang zu. Doch es gehört zur Natur von Streiks, dass sie Folgen für Dritte haben; ja, diese sind sogar beabsichtigt. Die eine Seite will höhere Löhne und Sozialleistungen erstreiten, die andere will ihre Profitmargen nicht korrigieren. Die mittelbar Betroffenen, also z.B. die Kunden von Bahn und Fluggesellschaften, bestimmen letztlich entweder durch ihre Duldung oder ihren Protest die Ergebnisse der Auseinandersetzungen.
Dieses Instrumentarium des Arbeitskampfs dadurch zu neutralisieren, indem man qua Gesetz Gewerkschaften erster und zweiter Klasse schafft und dadurch letztlich Berufen unterschiedliche Grundrechte einräumt, bedeutet einen Verfassungsbruch. Das einzige Unterscheidungskriterium zwischen großer, also bestimmender, und kleiner Gewerkschaft ist nach dem Tarifeinheitsgesetz die Quantität. Doch es entspricht der Arbeitsteilung in einer modernen Gesellschaft, dass es z.B. bei der Bahn weniger Lokführer als Verwaltungsmitarbeiter gibt. Die Freiheit der Berufsentscheidung wird dabei von Artikel 12, Absatz 1 GG geschützt.
Minderheiten fühlen sich offensichtlich von einer Spartengewerkschaft besser vertreten als wenn sie unter das Dach einer Einheitsgewerkschaft gingen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts benachteiligt diese Minderheit, die faktisch das Resultat einer besonderen fachlichen Qualifikation ist. In einer zunehmend auf Spezialistenwissen gründenden Gesellschaft wird die Einheitsgewerkschaft ohnehin keine Zukunft haben können. Einzelgewerkschaften werden aber politischer werden müssen und die Solidarität zwischen den Berufsgruppen deutlich stärker zu betonen haben als bisher.
Das Grundgesetz sieht in der Minderheit einen schützenswerten Bestandteil des demokratischen Rechtsstaats. Für den Parlamentarischen Rat war ein wie immer auch zustande gekommener breiter gesellschaftlicher Konsens, der sich außerhalb der gewählten Parlamente artikuliert (z.B. bei Tarifauseinandersetzungen) nicht zwangsläufig mit dem Gemeinwohl identisch. Für den Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim lassen sich die Gemeinwohlwerte des Grundgesetzes, also Menschenwürde, Freiheit, Rechtssicherheit, Frieden und Wohlstand an den Grundrechten, dem Rechtsstaats-, Sozialstaats- und Demokratieprinzip festmachen. Hierzu hat das Gericht, soweit bekannt wurde, offenbar keine Bewertungen vorgenommen, was aber bei einer derartigen Entscheidung notwendig wäre.
Die Verlagerung von Tarifkonflikten auf die Arbeitsgerichte, so wie sie das Urteil vorsieht, beinhaltet sogar eine Unterhöhlung des Gleichheitsgrundsatzes. Bei Gericht hat zwar jeder Anspruch auf rechtliches Gehör (was in der Praxis leider längst nicht überall geschieht), aber sämtliche vorzutragenden Argumente bedürfen einer soliden juristischen Untermauerung. Das macht die Hinzuziehung von Fachanwälten nötig, was die Verfahrenskosten spürbar erhöht und den wirtschaftlich Schwächeren langfristig vor Probleme stellen könnte.
Folgt man der Logik der Verfassungsgerichtsmehrheit, würde als eine von mehreren denkbaren Konsequenzen beispielsweise das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen (Artikel 4, Absatz 3 GG) dann in Frage zu stellen sein, wenn davon intensiv Gebrauch gemacht würde. Denn käme es in der Folge der Inanspruchnahme eines Rechts zu einem drastischen Rückgang an Soldaten, wären unter Umständen die militärischen Interessen der Bundesrepublik gefährdet. Seit der Abschaffung der Wehrpflicht stellt sich dieses Problem zwar nicht. Andererseits könnte durch die permanente Verlegung der deutschen Außengrenzen im Zuge der Globalisierung, z.B. an den Hindukusch, eine Wiedereinführung der Wehrpflicht geboten erscheinen.
Die Relativierung von Grundrechten damit zu begründen, dass wirtschaftliche Einzelinteressen in der Summe dem Allgemeinwohl dienten, erscheint deswegen als eine Umwertung des Rechtsstaatsgedankens. Artikel 14, Absatz GG bestimmt: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Das ist vor allem an die Adresse der wirtschaftlich Starken gerichtet. Die Widersprüche des Kapitalismus, darunter die sich zwangsläufig ergebenden Interessenskollisionen zwischen denen, die über Eigentum an den Produktionsmitteln verfügen und denen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, sind Konflikte, die einer politischen Lösung bedürfen. Das Grundgesetz legt dazu die Verfahrensregeln fest, aber es stattet nichts und niemanden vorschnell mit einem Heiligenschein aus, der sich morgen oder übermorgen als Fehlentscheidung herausstellen könnte.
Foto: Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe © Pressestelle BVG