kpm Kirchenamt der EKD in Hannover c EKDDie christlichen Kirchen zwischen Realität und falschen Hoffnungen

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Ein Ergebnis kann noch so schlecht sein. Es findet sich fast immer ein Grund, daraus auch positive Schlüsse zu ziehen.

Solches Schönreden vollzieht sich alljährlich, wenn die Evangelische und die Katholische Kirche ihre jeweiligen Mitgliederbewegungen bilanzieren. Im vergangenen Jahr verließen 162.093 Katholiken ihre Kirche; 190.000 Protestanten kehrten den lutherischen, reformierten und unierten Landeskirchen den Rücken. Das sind bei beiden Konfessionen jeweils 20.000 Austritte weniger als im Jahr 2015. Doch diese Zahlen als Trendwende zu bezeichnen, wie es einige Kirchenoffizielle tun, erscheint gewagt. Vielmehr wird erneut die langjährige Tendenz bekräftigt, der zufolge sich eine Entwicklung, die vor knapp vier Jahrzehnten begann, fortgesetzt hat. Sie verläuft lediglich in manchen Jahren dramatischer als in anderen.

Vor 31 Jahren, 1986, veröffentlichte das Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland eine Untersuchung mit dem Titel „Christsein gestalten. Eine Studie zum Weg der Kirche“ (erschienen im Gütersloher Verlagshaus). Bereits in deren Einleitung findet sich eine bedenkenswerte Feststellung:
„Eine Gemeinde, die helfen will, Christsein zu gestalten, also eine Gemeinde, die sich missionarisch und diakonisch versteht, kann hier, jetzt und in Zukunft nicht im überlieferten, festen Gebäude bleiben - weder im übertragenen noch im wortwörtlichen Sinn. Sie wird nicht nur die Kirchentüren offen halten für alle und ihnen aufgeschlossen begegnen; sie wird auch hingehen zu denen, die Hemmungen oder Widerstände verspüren, zu kommen.“

Das Papier prophezeite der Kirche, sich auf dem Weg zu einer gesellschaftlichen Minderheit zu befinden. Das hinge mit tiefgreifenden Veränderungen zusammen, die nicht nur auf demografische Entwicklungen (mehr Alte, weniger Junge) zurückzuführen seien. Bei der bundesweiten ALLBUS-Umfrage von 1982 hätten lediglich noch 26 Prozent der Befragten angegeben, dass Religion und Kirche für sie zu den wichtigen Lebensbereichen zählten. Nur das Interesse für Politik und öffentliches Leben erzielte mit 23 Prozent einen noch schlechteren, nämlich letzten Platz. Die Ränge davor belegten „eigene Familie und Kinder“ (78 %), „Freizeit und Erholung“ (58 %), „Beruf und Arbeit“ (55 %), „Freunde und Bekannte“ (50 %) sowie „Verwandtschaft“ (32 (%).

Eine weltanschauliche Gemeinschaft kann - im Gegensatz zu einer Produktmarke - ihr Alleinstellungsmerkmal nicht kosmetisch aufpolieren, falls dieses an Anziehungs- und Überzeugungskraft verliert. Denn sämtliche kirchlichen Aktivitäten müssen zwangsläufig den Kern der christlichen Idee wiedergeben: Eine Gemeinde der Sterblichen zu sein, die sich im Leben gegenseitig beisteht und die darauf hofft, dass der Tod nicht das Ende ist. Eine solche Auffassung ist kein Konsumartikel und deswegen verbieten sich sämtliche Versuche, religiösen Glauben marktfähig zu machen. Letzteres wird von Kirchenvertretern, die vom Glauben nicht existenziell berührt zu sein scheinen und von wirtschaftlichen Zusammenhängen nichts verstehen, gern gefordert. Denn eine Orientierung an Marktgesetzen würde den Hang zur Beliebigkeit verstärken und dadurch den endgültigen Untergang des Wertezeichens „Glauben“ billigend inkauf nehmen.

Evangelische und katholische Kirchen könnten jedoch ihre ethischen Positionen in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs einbringen, sich durch aktives Einmischen bemerkbar machen und Alternativen zur herrschenden Eindimensionalität formulieren. Entsprechende Versuche gab es tatsächlich, nicht zuletzt im publizistischen Bereich.
Erinnert sei an das „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“, eine intellektuelle und weltoffene Wochenzeitung der evangelischen Kirche, die hohes Ansehen genoss und wegen des finanziellen Zuschussbedarfs 2001 eingestellt wurde (der Markt hat es eben nicht gerichtet). Das Ersatzblättchen mit dem nicht inspirierenden Namen „Chrismon“ zeigt hingegen die Kleinmütigkeit einer Kirche, die den Eindruck erweckt, sich selbst längst aufgegeben zu haben.
Als vor vierzehn Jahren der hohe Stellenwert, den Computer und Handys bei Kindern und Jugendlichen genießen, immer deutlicher wurde, stellte die Evangelische Kirche ihre medienpädagogische Fachzeitschrift „medien praktisch“ ein und verabschiedete sich damit aus dem Dialog mit Fachleuten. Und wieder wurden dafür finanzielle Gründe angegeben. Für substanzlose Internetblogs wie „evangelisch.de“ stehen hingegen Mittel zur Verfügung. Typisch ist einer der letzten Threads: „Warum wir mit der AfD reden."

Die katholische Deutsche Bischofskonferenz fasste 1971 den Beschluss, die Wochenzeitung „Publik“ nach nur drei Jahren Erscheinen einzustellen. Vordergründig wurden finanzielle Gründe genannt, es dürfte aber vor allem um die Inhalte gegangen sein, die vielen Kirchenfürsten als zu progressiv erschienen waren. Seither gibt eine überkonfessionelle Leserinitiative das Magazin „Publik Forum“ heraus und beweist, dass konfessionelle Themen, die authentisch sind und professionell aufbereitet werden, ihr Publikum finden.

Die kirchliche Publizistik ist gut zu vergleichen mit derjenigen von Gewerkschaften und SPD. Überall steckten und stecken zu wenig kluge Köpfe dahinter. Deswegen sind Zweifel berechtigt, ob es den weltanschaulichen Großorganisationen gelingen wird, noch einmal Fuß zu fassen, bevor sie in der Bedeutungslosigkeit versinken.

Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, der ja bereits ein kritisches Buch mit dem Titel „Das Kapital“ geschrieben hat, könnte zum katholischen Marxisten werden und sämtlichen Heiligen den Rang ablaufen, falls er angesichts des riesigen Bedarfs an Wohnungen in den vielen kirchlichen Liegenschaften Wohnungen für Normalbürger errichten ließe. Die Mieter würden sich bestimmt als dankbar erweisen und neben einer fairen Miete auch noch Kirchensteuern bezahlen. Der Ratsvorsitzende der EKD, der formal mit weniger Macht ausgestattet ist und sich mit noch mehr Bedenkenträgern (landeskirchliche Synoden etc.) herumschlagen muss, könnte auf das katholische Beispiel verweisen und Lutheraner und Reformierte in Zugzwang setzen.

Der Glaube hat, wie die Kirchen wiederholt in Erinnerung rufen, seinen Sitz im Leben. Genau deswegen geht es nur so oder ähnlich und nicht anders.


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Kirchenamt der EKD in Hannover © EKD