Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Mehr als vier Jahre dauert mittlerweile der Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht um einen der größten politischen Skandale der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ungehindert konnte eine rechtsextreme Terrortruppe zehn Jahre lang quer durch Deutschland ziehen und insgesamt zehn Menschen ermorden, acht Türken, einen Griechen und eine deutsche Polizistin.
Herausragende Figur des „nationalsozialistischen Untergrunds (NSU): Beate Zschäpe. Sie stellte sich 2011 freiwillig, nachdem die mutmaßlichen Haupttäter erschossen in ihrem Wohnwagen aufgefunden worden waren. Angeblich nahmen sie sich selbst das Leben.
Dem politischen Skandal scheint nunmehr ein juristischer zu folgen. Die Bundesanwaltschaft legte in ihren Plädoyers Wert auf die Feststellung, dass sich keine Hinweise auf eine strafrechtliche Verstrickung staatlicher Stellen ergeben hätten. Das brachte den Juristen und Chefkommentator der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl, in Harnisch. Damit liege die Bundesanwaltschaft „grob daneben“, konstatierte er in der Ausgabe vom 26. Juli. Die Untersuchung staatlichen Fehlverhaltens sei nicht Gegenstand des Prozesses gewesen. „Weil dies so war, darf die Bundesanwaltschaft den Behörden auch keinen Persilschein ausstellen.“ Es widerspreche allem, was man wisse: „Geheimdienste haben V-Mann-Akten vernichtet, V-Leute der Verfassungsschutzes waren den NSU-Mördern viel zu nahe. Dazu muss man nur den 1800-Seiten Bericht des thüringischen Untersuchungsausschusses lesen.“
Zwei Jahre nachdem die Mordserie bekannt geworden war, rätselten Öffentlichkeit und Sicherheitsbehörden immer noch, weshalb der Verfassungsschutz nicht den geringsten Hinweis auf das Treiben der Mörderbande gegeben hat. War da niemand, der sich daran erinnerte, dass schon einmal Menschen getötet wurden, weil sie die falsche Nationalität hatten, weil sie Polen waren, Juden, Russen oder Serben? Man durfte gespannt sein, was der Verfassungsschutz im offiziellen Bericht für das Jahr 2011 zu seiner Rechtfertigung sagen würde. Aber auf den 500 Seiten fand sich zu der Mordserie keine Zeile. Kein Wort darüber, weshalb niemand auf den Gedanken kam, die Morde könnten einen fremdenfeindlichen rechtsextremistischen Hintergrund haben. Schmallippig sprach Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) im Vorwort von einem „schmerzlichen Misserfolg“ und „möglichen Fehlern“. Dabei war von Anbeginn klar, dass unbegreifliche Fehler gemacht worden sind. Die Mitglieder der Terrorzelle konnten ungestört abtauchen und erhielten, wie die Süddeutsche Zeitung am 15. April 2013 spöttisch bemerkte, alle Zeit, sich im Untergrund einzurichten.
Angesichts der Haltung des Bundesinnenministers verwunderte es nicht, dass die unteren Chargen des Verfassungsschutzes nichts unversucht ließen, die Spuren ihres Versagens zu verwischen, angefangen vom Schreddern wichtiger Akten bis hin zum banalen Gerede von angeblichen Fahndungspannen. Im Untersuchungsausschuss des Bundestages stellten sich die Beteiligten unwissend oder machten kein Hehl aus ihrer Geringschätzung gegenüber den Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Die mutmaßlichen Täter wurden jedenfalls nicht unter Rechtsextremisten gesucht, sondern im Umfeld der Opfer, ja sogar bei den Familien der Betroffenen. Das Verhalten des Verfassungsschutzes, seine Untätigkeit in diesem einzigartigen Fall, hat politische Ursachen. Über diese Ursachen müsse gesprochen werden und es müssen Konsequenzen gezogen werden, wenn sich das Vorgefallene nicht wiederholen soll, sagte ich am 20. Juni 2013 in einem, Vortrag über die Hintergründe der Mordserie. Hier weitere Auszüge:
Die Verharmlosung des Rechtsextremismus hat eine lange Vorgeschichte. Sie beginnt damit, dass Angehörige der Gestapo und der SS als Taufpaten an der Wiege des Verfassungsschutzes standen. Deren Augenmerk war nicht auf den Rechtsextremismus gerichtet, dem sie bis vor kurzem selber gedient hatten, sondern auf die Gegner von gestern, auf tatsächliche und vermeintliche Kommunisten, radikale Christen und Pazifisten. Widerstandskämpfer gegen die Nazidiktatur, dem KZ gerade entronnen, sahen sich bald wieder vor dem Richter, und oft war dieser ein alter Nazi. („Süddeutsche Zeitung“, 14. März 2009). Wer sich als Antifaschist bekannte, galt als linksextremistisch und damit als Staatsfeind. Als die Zwickauer Terrorzelle ihre Blutspur ungehindert quer durch Deutschland ziehen konnte, hatte der Verfassungsschutz nichts Wichtigeres zu tun, als die Öffentlichkeit davor zu warnen, rechtsextremistische und ausländerfeindlich motivierte Straftaten von einer antifaschistischen Position aus zu bewerten. Nachzulesen im Jahresbericht 2003, Seite 155. Derselbe Irrwitz findet sich in den „Texten zur inneren Sicherheit“, herausgegeben vom Bundesminister des Innern im November 1992 auf Seite 96. Dort heißt es: „Feinde der freiheitlich-demokratischen Grundordnung machen sich die rechtsextremen Erscheinungen zu Nutze, um unter dem Vorwand des Antifaschismus die freiheitlich demokratische Grundordnung zu bekämpfen.“ (Seite 78)
Die Neonazis werden sich ausschütten vor Lachen. Der Wahnsinn hat nämlich Methode. Für Anschläge auf jüdische Einrichtungen wurden nicht sie, sondern die deutschen Kommunisten oder östliche Geheimdienste verantwortlich gemacht. Bereits drei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik war die gesellschaftliche Ausgrenzung der kommunistischen Minderheit wieder so weit gediehen, dass die meisten westdeutschen Zeitungen kommentarlos darüber hinweggingen, als bei einer verbotenen Demonstration gegen die Wiederbewaffnung ein Kommunist erschossen wurde. Angesehene Blätter wie "Der Spiegel" und die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" nahmen von dem Ereignis nicht einmal nachrichtlich Notiz. Bis heute gilt der Student Benno Ohnesorg als das erste Demonstrationsopfer der Nachkriegszeit. Der starb aber erst fünfzehn Jahre später in Berlin. Den Namen von Philipp Müller, der 1952 in Essen von einer Polizeikugel tödlich getroffen wurde, kennt im Westen fast niemand. In Hans-Ulrich Wehlers "Deutscher Gesellschaftsgeschichte" taucht er nicht auf. (Fortsetzung folgt).
Foto: © brdakut-wordpress.com
Info: Die Artikelserie über Philipp Müller von Conrad Taler in WELTEXPRESSO
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