Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Dem verstorbenen Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, blieb es erspart, 2003 die Rede des CDU-Abgeordneten Martin Hohmann zum Tag der deutschen Einheit anhören zu müssen, in der er behauptete, man könne die Juden durchaus als Tätervolk bezeichnen, schließlich sei Zar Nikolaus II. von einem bolschewistischen Juden getötet worden.
Als Hohmann daraufhin aus der Unionsfraktion des Bundestages ausgeschlossen wurde, stimmten 20 Prozent seiner Fraktionskollegen mit Nein oder enthielten sich der Stimme. Das entsprach exakt dem bei Umfragen immer wieder ermittelten Anteil von Antisemiten an der Gesamtbevölkerung. Hohmann hatte einen Faden weiter gesponnen, den vor ihm schon andere aufgenommen hatten. Der CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß meinte, das deutsche Volk habe angesichts seiner wirtschaftlichen Leistungen ein Anrecht darauf, "von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen". Helmut Kohl warf dem Initiator des Auschwitzprozesses, Fritz Bauer, Anfang der 1960er Jahre vor, der zeitliche Abstand zum Dritten Reich sei noch viel zu kurz für ein abschließendes Urteil über den Nationalsozialismus.
Triumphierend verkündete im Oktober 1980 der Eigentümer der rechtsgerichteten „Deutschen Nationalzeitung“, Gerhard Frey, soeben sei das 500. Strafverfahren gegen ihn ohne Ergebnis zu Ende gegangen. Selbst vor dem Bundesverfassungsgericht blieb Frey ungeschoren. Geholfen hatte ihm ein Rechtsgutachten von Theodor Maunz, dessen Kommentar zum Grundgesetz bis heute Pflichtlektüre eines jeden Jurastudenten ist. Nach dem Tode von Maunz wurde bekannt, dass er insgeheim für das antisemitische Hetzblatt gearbeitet hatte. Der Herausgeber der „Deutschen Nationalzeitung“ habe mit Maunz „seinen wunderbaren Wegbegleiter" verloren, hieß es in einem Nachruf der Redaktion. Ein Vierteljahrhundert sei Maunz maßgeblicher Berater von Dr. Frey gewesen. Eineinhalb Jahrzehnte hindurch habe er beinahe allwöchentlich seine – wie es hieß - "hervorragenden politischen Beiträge" ohne Autorenangabe in der "Nationalzeitung" veröffentlicht.
Der Skandal begann allerdings schon früher. Theodor Maunz war im Dritten Reich Jura-Professor und vor allem mit Staats- und Verwaltungsrecht, hier vor allem der Stellung der Polizei im NS-Staat beschäftigt. Er gehört "zu den akademischen Juristen, die durch ihre Arbeiten dem NS-Regime juristische Legitimität zu verschaffen bestrebt waren."Das war in Bayern längst bekannt, hat ihn aber nicht seine Stelle als Professor gekostet. Er trat rechtzeitig in die CSU ein. Als Maunz dann von 1957 bis 1964 bayerischer Kultusminister war, holten ihn einige aus der Zeit vor 1945 stammender Texte doch ein, die öffentlich wurden. Unter Druck geraten, erklärte er am 10. Juli 1964 seinen Rücktritt und arbeitete wie man heute weiß bei den Rechtsradikalen im Geheimen mit.
Wer garantiert uns, dass es nicht ähnliche Fälle gibt? Hat der Verfassungsschutz von dieser Gesinnungs-Kumpanei nichts gewusst oder hielt er sie bewusst unter dem Deckel, um nicht der eigenen Einschätzung widersprechen zu müssen, der Rechtsextremismus habe in Deutschland keine Chance? In seinem ersten Jahresbericht über den Extremismus in der Bundesrepublik hatte er den Rechtsradikalismus als schwach und zersplittert beschrieben. Nur die Kommunisten behaupteten das Gegenteil. Der zuständige Bundesinnenminister Hermann Höcherl von der CSU sagte bei der Vorstellung des Berichtes, der Rechtsradikalismus in Deutschland vereinsame regelrecht. Das war 1962. Inzwischen sind mehr als einhundert Menschen rechtsradikaler Gewalt zum Opfer gefallen.
Ganz offensichtlich gibt es im vereinten Deutschland zwei gegenläufige und sich widersprechende historische Orientierungen: Die offiziellen Bekenntnisse zum des Widerstand gegen die Nazidiktatur und die Geringschätzung des Widerstandes aus den Reihen der Arbeiterschaft. Der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel hat seiner Partei bereits 1980 vorgehalten, vielfach sei die Verbindung zur Geschichte überhaupt verloren gegangen. Inzwischen gilt das auch für die Nachkriegsgeschichte. Wie sonst könnte die DDR mit der Nazidiktatur auf eine Stufe gestellt werden. Nach Berechnungen der ehemaligen Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben haben alle DDR-Richter zusammen in 40 Jahren 214 Todesurteile gefällt. Darunter waren 94 Urteile wegen NS-Verbrechen und 74 wegen so genannter Staatsverbrechen, also politisch motivierte Urteile. Der ehemalige Nazirichter Hans-Joachim Rehse a l l e i n hat 231 Todesurteile gefällt, also mehr als alle DDR-Richter zusammen. Er wurde am 6. Dezember 1968 vom Schwurgericht beim Landgericht Berlin freigesprochen.
Historiker des Münchner Instituts für Zeitgeschichte haben festgestellt, dass der politisch motivierte Widerstand gegen das NS-Regime zu 75 Prozent kommunistischer Widerstand war, zu zehn Prozent sozialdemokratischer und zu drei Prozent christlich-bürgerlicher Widerstand. Mannheimer Wissenschaftler haben die Lebensläufe von 1.675 führenden deutschen Kommunisten untersucht und festgestellt, dass 256 von ihnen dem Terror der Nazis und 208 dem Terror Stalins zum Opfer gefallen sind. Bundespräsident Heinrich Lübke – alles andere als ein Freund der Linken – sagte in einer Gedenkrede zum 20. Juli, viele kommunistische Widerstandskämpfer seien unabhängige Idealisten gewesen, und es wäre unredlich, ihnen unterschieben zu wollen, sie hätten nur als Handlanger einer fremden Macht gehandelt.
Mit der Bespitzelung von Antifaschisten schafft der Verfassungsschutz Freiraum für die Rechtsradikalen. Wozu die Neonazis fähig sind, zeigte sich 1996 auf einer Kundgebung des Bundes der Vertriebenen. Dort beschimpften sie den Bundespräsidenten Roman Herzog als „Vaterlandsverräter“, weil er die deutschen Gebietsverluste im Osten als endgültig bezeichnet hatte. Die deutsche Öffentlichkeit nahm davon so wenig Notiz wie von der alarmierenden Feststellung der Landesanwaltschaft Bayern, die innenpolitische Entwicklung sei dadurch gekennzeichnet, dass verfassungsfeindliche, den Nationalsozialismus billigende, verherrlichende oder rechtfertigende Bestrebungen geduldet werden. Die Landesanwaltschaft – in anderen Bundesländern Generalstaatsanwaltschaft genannt - erklärte das in einem Gutachten für das Bundesverfassungsgericht. (BvR 461/08).
Das Versagen der Sicherheitsbehörden im Fall der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) war keine Panne, sondern die Folge politischer Einäugigkeit. Auch bei den fremdenfeindlichen Pogromen von Lichtenhagen und Hoyerswerda sowie bei den tödlichen Brandanschlägen von Mölln und Solingen waren Polizei und Verfassungsschutz ihren Aufgaben nicht gewachsen. Von dem selbst inszenierten Sprengstoffanschlag auf die Außenmauer der Justizvollzuganstalt in Celle, mit dem der Verfassungsschutz linksterroristische Aktivitäten vortäuschen wollte, ganz zu schweigen. Zum Glück orientieren sich immer mehr Menschen nicht am Weltbild des Verfassungsschutzes, der antifaschistisches Engagement für linksextremistisch hält und schließen sich zu breiten Bündnissen gegen die Neonazis zusammen. Vielerorts beschäftigen sich Schülerinitiativen mit dem Geschehen während der Nazizeit und würdigen die Opfer der Verfolgung
Ganz ohne Zweifel habe Deutschland eine „der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen in den letzten Jahrzehnten“ erlebt, sagte der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, mit Blick auf die Mordserie des NSU. Er versprach, dass sich Derartiges nicht wiederholen werde. Organisatorische Maßnahmen reichen dafür allerdings nicht aus. Das Scheuklappendenken muss aufhören und – was nicht weniger wichtig ist - der Verfassungsschutz muss sich im Umgang mit Naziopfern und zugewanderten Mitbürgern an der immerwährenden Verantwortung für das von Deutschland während der NS-Zeit begangene Menschheitsverbrechen orientieren. Auf diese Verantwortung hat Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Recht hingewiesen. So beugt man am besten einer Berufskrankheit der Schlapphüte vor - der politischen Blindheit auf dem rechten Auge. Einen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit kann es nicht geben, weil die innere Selbstreinigung ausgeblieben ist, und es wird ihn nicht geben, so lange unser Land von Demokraten regiert wird.
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